Als die Mauer fiel, war ich 14 Jahre alt und lebte in Potsdam mit dem täglichen Blick auf West-Berlin. Als ich mein Abitur machte, war das wiedervereinigte Deutschland eine junge, eine aufregende Nation, aber besonders im Osten auch überall Neuland.
Anders als manche meiner Schulkameraden begann ich nach dem Abschluss erst mal eine Lehre. Wer während und unmittelbar nach der Wendezeit in der ehemaligen DDR aufwuchs, der erkannte, wie kostbar ein sicherer Arbeitsplatz und ein garantiertes Einkommen sind, wie wichtig eine solide Ausbildung in einem anerkannten Beruf ist. Ich ging zur Bank. Die Erfahrungen, Learnings und Bekanntschaften, die ich dort machte, sollten mich langfristig auf die Selbständigkeit vorbereiten.
Der Anfang in der Bank
Im Gegensatz zu heute war in den Neunzigern die Bankausbildung noch sehr breit aufgestellt. Bei der Sparkasse durchlief ich sämtliche Stationen. Anderthalb Jahre verbrachte ich in verschiedenen Filialen von der Provinz bis zur Großstadt. Ich arbeitete am Schalter, in der Beratung und im Backoffice. Abends Kontoauszüge einsortieren, tagsüber wieder herausgeben. Daueraufträge erfassen, Konten eröffnen, ab und an mal eine Versicherung verkaufen, Beratungsbedarf erkennen und an verantwortliche Kollegen überleiten. Belege sortieren und abheften. Geistig war das wenig fordernd, dafür aber stressig und fremdbestimmt. Der Weg in die komplexere Beratung schien mir sehr steinig.
Zum Glück kamen danach quartalsweise die Kreditabteilungen (Baufinanzierungen und kleine Unternehmenskunden) und die Organisationsabteilung (Betrieb und EDV). Das war viel mehr meine Welt. Wunderbare Einblicke in den Bankbetrieb abseits der Verkaufsfront. Im Jahr 1997, ich war 22, erstellte ich mein erstes Reporting. Heute sind diese Analysen selbstverständlich. Wir manövrieren uns mit ausgefeilten Tools ans Ziel. Damals, in Zeiten, als in den Filialen noch Briefe an Kunden auf der Schreibmaschine geschrieben wurden, war alles ein großes Abenteuer.
Vieles, was heute selbstverständlich ist oder schon veraltet, war Ende der Neunziger eine Revolution, “en vogue”. Beispielsweise die Einführung des risikoadjustierten Pricings für Kredite, die die Höhe des Zinssatzes aus der Bonität des Antragstellers ableiten. KI in Zeiten, als noch kaum jemand von maschinellem Lernen oder neuronalen Netzen sprach. Meine direkte Teilnahme an diesem deutschlandweiten Pilotprojekt war in meinem ersten richtigen Berufsjahr ein Schlüsselerlebnis. Ich erkannte, wie und woran ich künftig arbeiten wollte.
Der Lohn des Basiswissens
Meinen Vorgesetzten im Vertriebscontrolling konnte ich mit dem besagten Reporting, meinem analytischen Geschick und meinen Programmierfähigkeiten überzeugen. Der Abteilungsdirektor behielt mich schon als Azubi in seinem Team. Er bot mir eine unbefristete Festanstellung – direkt unter ihm – mit der Option auf die geförderte Fachwirtausbildung an der Sparkassenakademie an. Bereits zu diesem Zeitpunkt erkannte ich den Wert und das Netzwerk meiner vorherigen Stationen. Zu wissen, wie die Geschäftsprozesse, die man steuern soll, in der Praxis gelebt werden und wie die Ergebnisse unter bestimmten Bedingungen zustande kommen – mein generalisiertes Wissen war schon damals hochprofitabel.
Erst Wasserträger, dann Student
Doch nach zwei Jahren auf dieser Stelle störte mich meine Rolle: Ich war Mitte zwanzig und egal, wie hart, verlässlich und kreativ ich nach Lösungen strebte, ich war nur ein Wasserträger. Ein Mann ohne Studienabschluss. Jemand, der mitwirkte, aber eben nicht gestaltend eingreifen durfte.
Ich studierte Informatik und Betriebswirtschaftslehre an der Fernuni Hagen. Parallel zum Vollzeitjob bestand ich meinen Fachwirt. Im Hauptstudium tauschte ich das Fach BWL später gegen Statistik, besuchte die Technischen Universität in Berlin, vertiefte mein Wissen in der neuronalen Informationsverarbeitung. Auch hier zeigte sich, wie sehr die Erfahrungen aus dem Bankalltag halfen: Ich war einer der Ältesten in den Studienseminaren, als Statistik-Tutor wurde ich gesiezt. Aber dafür wusste ich genauer als viele andere, was ich lernen wollte und vor allem, was ich mit dem Wissen anfangen konnte. Ich entwickelte mich nach und nach zu einem Spezialisten.
Warum die Selbständigkeit?
Dafür wechselte ich sogar die Seite, ging zu einer Unternehmensberatung. Bei einer kleinen Firma in Bonn fing ich an – mit einem großen Kunden: der Deutschen Telekom. Nach einem kurzen Konzeptionsdebüt bei der ING-DiBa entwickelte ich für den Magenta-Riesen Produkt-Affinitätsmodelle mit neuronalen Netzen. Schnell kamen im Rahmen von Folgeaufträgen das Management kleinerer Projekte und das Design geschlossener CRM-Lösungen (Closed Loop Marketing) hinzu.
Auch meine Generalisierung schritt dadurch stetig voran. Mir halfen – neben der in der Universität erlernten wissenschaftlichen und strukturierten Arbeitsweise – das unternehmerische Denken und Handeln basierend auf den Grundlagen und Erfahrungen als Bankkaufmann und Controlling-Fachwirt. Neben den Projekten rundeten Fachvorträge auf Konferenzen, Einsätze als Fachbereichsleiter “Data Analysis” bei Messen und PreSales-Terminen die Ausweitung meines Wirkungsspektrums ab. Doch warum wählte ich später die Selbständigkeit anstelle einer sicheren Festanstellung?
Die Antwort: Nach ein paar Jahren in der Unternehmensberatung besaß ich das generelle Wissen und die Referenzen, mit denen ich mich für viele Projekte und Rollen bei spannenden Unternehmen als Consultant oder Projektmanager qualifizieren konnte. Ich wollte immer weiter dazulernen, stetig neue Gebiete erkunden und mich auf Themen, die mich begeisterten, konzentrieren.
Die Selbständigkeit als Antrieb
Dank der Selbständigkeit hatte ich das ganz in meiner Hand: Ich bestimmte Richtung, Geschwindigkeit, Attraktivität, Finanzen in Eigenverantwortung auf einem boomenden Projektmarkt.
Das eigene Unternehmertum trieb mich an, mein Portfolio konsequent und konsistent zu verbessern, meine Persönlichkeit und mein Know-how wachsen zu lassen. In den Unternehmen, in den ich helfen durfte, sah ich wiederkehrend, dass das ein großer Vorteil von hoch qualifizierten Projektexperten gegenüber den Festangestellten ist: Sie bleiben in ihrer Entwicklung seltener stehen!
Zwar können sich auch Festangestellte stetig weiterbilden, Unternehmen unterstützen das teilweise sehr ergiebig. Aber der Ausbruch aus einer gewachsenen Position ist schwierig. Das eigene Können und Wissen ganz woanders einsetzen? Das verlangt viele Entscheidungen, zuallererst die Kündigung oder eine interne Neu-Bewerbung. Als Selbständiger ist man vielmehr gezwungen, das Tempo der Veränderungen in einer zusehends rasanten Welt mitzugehen. Das ist anstrengend und nicht jedermanns Sache. Lohnt sich am Ende aber immer. Für einen selbst und damit auch für die Kunden.
Selbständige denken unternehmerisch
Abseits des Wissenstransfers und der stetig neuen Impulse bietet die Selbständigkeit einen Vorteil, den viele Manager auf Kundenseite in Projekten schätzen. Externe Experten kommen von außen. Sie sind nicht Teil des üblichen Flurfunks. Sie konkurrieren nicht um Beförderungen. Wird die Zusammenarbeit zu Beginn fair und transparent ausgelotet, entsteht Vertrauen. Diese Harmonie ist häufig ein unterschätzter Meilenstein auf dem Pfad zum Projekterfolg.
In dieser vertrauensvollen Konstellation wird Verantwortung übertragen. Häufig übernehme ich nicht zuletzt aus kapazitiven Engpässen des Managements heraus Teilbereiche des Projekts – manchmal sogar die gesamte Koordination. So verstärkt sich der Schulterschluss von Generalisierung und Spezialisierung fortwährend bei jedem Projekt. Denn: Wissen und Erfahrungen muss ich fach- und branchenübergreifend verknüpfen. Die Anpassung an neue Gegebenheiten fällt immer leichter.
Diese Prozesse bestätigen, fördern und fordern mich als Spezialisten und Generalisten. Auch sorgen sie dafür, dass ich mich früh und fokussiert auf neue Trends einlassen kann. Eine bessere Grundlage für erfolgreiche und vertrauensvolle Projektarbeit kann ich mir kaum vorstellen.