Herr Barnack, Sie werden oft gerufen, wenn Projekte auf „Rot” stehen. Das heißt im Jargon: Die Realisierung in Zeit, Qualität und Budget ist gefährdet. Auf einer Skala von Grün bis Rot: Wie zukunftsfähig sind deutsche Versicherungen?
Ich würde sie mit Gelb bewerten, bestenfalls leicht Grün – aus der Sicht eines IT-Experten.
Eine mittelprächtige Bewertung, trotzdem für viele weniger dramatisch als angenommen. Was macht die Branche bereits richtig?
Es wird viel Kapital investiert. Besonders in den vergangenen Jahren ließ sich beobachten, dass Versicherer an ihrer Zukunftsfähigkeit arbeiten. Zum Beispiel durch Zukäufe von Start-ups und Fintechs.
„Dadurch, dass sich die Relevanzen laufend verändern, befinden sich Versicherungen ständig in Priorisierungsprozessen.“
Dennoch gibt es Handlungsbedarf. Vor welchen Herausforderungen stehen die Versicherungen?
Sie sind mit diversen Themen parallel konfrontiert. Sie müssen ihre Anwendungslandschaft konsolidieren und vereinheitlichen. Also abwägen, welche Softwares und Systeme sie intern einsetzen. Dazu kommen die Kostenreduktion und die Ressourcenverlagerung, beispielsweise durch Outsourcing. Der Klimawandel sorgt mit seinen Folgen für höhere und kaum kalkulierbare Schadenquoten. Dadurch, dass sich die Relevanzen laufend verändern, befinden sich Versicherungen ständig in Priorisierungsprozessen.
Welche internen Hürden gibt es für die IT-Abteilungen der Versicherer?
Durch die Digitalisierung stehen traditionelle IT-Prozesse starren Linienstrukturen gegenüber. Agile Arbeitsweisen wie Scrum werden immer populärer. Auch die Anforderungen aus dem Omnichannel-Management steigen.
Die Digitalisierung fordert viele Branchen heraus. Wie modern ist der Versicherungssektor im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen mittlerweile?
Nach meiner Einschätzung gab es in den vergangenen Jahren gute Fortschritte. Bezogen auf andere Industrien scheint mir die Versicherungsbranche aber eher noch im Rückstand.
Welche Quantensprünge wurden bereits gemacht?
Viele Frontend-Kommunikationskanäle zu Kund*innen wurden digitalisiert. Vor allem im Privatkundenbereich treten Versicherungen mit nutzerfreundlicheren Produkten und Services an.
Welchen Mehrwert generieren Versicherungen aus der Digitalisierung?
Sie ist ein essenzielles Instrument zur Effizienzsteigerung, Prozessoptimierung und schließlich Kostensenkung. Konsequente Umsetzung entlang der Wertschöpfungskette vorausgesetzt. Die Kund*innen sollten dabei immer im Mittelpunkt stehen.
Ein weiterer Treiber dieser erforderlichen Transformation: Daten.
Für die Branche waren Daten immer ein elementarer Bestandteil des Geschäfts. Keine Risikoanalyse, keine Bestandserfassung und keine Tarifentwicklung kommt ohne die notwendigen Informationen aus. Die entscheidende Frage ist: Wie kann ich die generierten Daten instrumentalisieren? Datensätze sind – nüchtern betrachtet – „wertlos”, wenn man daraus keinen Nutzen zieht.
„Versicherer müssen die Digitalisierung abteilungsübergreifend und nicht in klassischen Silos betrachten.“
Wie kann die Digitalisierung bei der Datennutzung konkret helfen?
Mittels Data Analytics werden die gewonnenen Daten nutzbar gemacht. Sie sind Impulse für passende Produkte, Leistungen und ein besseres Verständnis für Kund*innen. Anhand der Ergebnisse lässt sich herausfinden, wie man sie (noch) mehr an sich bindet und ihnen einen (noch) besseren Service bieten kann. Versicherer müssen die Digitalisierung abteilungsübergreifend und nicht in klassischen Silos betrachten.
Entwickeln sich die einzelnen Versicherungswesen in unterschiedlichem Tempo?
Was die Digitalisierung betrifft, sind Krankenversicherungen gut vorangekommen. Man hat insbesondere in die Rechnungseingangsverarbeitung investiert und setzt vermehrt auf künstliche Intelligenz. Hingegen ist man im Bereich der Gewerbe- und Industrieversicherung aufgrund der höheren Komplexität noch nicht so weit.
2021 war ein schweres Jahr für die Versicherungsbranche. Zum Beispiel durch die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Schaden- und Unfallversicherer haben erstmals seit 2013 wieder rote Zahlen geschrieben. Inwieweit können digitale Mittel wie KI die Unternehmen wieder rentabel machen?
Diese Maßnahmen können einen mittel- bis langfristigen Beitrag leisten. Sofortige Stabilität erlangen einige Unternehmen wohl nur zurück, indem sie vorübergehende Beitragsanpassungen entsprechender Verträge vornehmen.
Haben Sie ein Beispiel für einen langfristigen Beitrag?
Nehmen wir das Thema Blockchain. Der Charme dieser dezentralen Datenmanagement-Technologie liegt darin, dass sie Transaktionen zwischen den Teilnehmenden eines Netzwerks direkt ermöglicht. Das macht einen Mittelsmann überflüssig. Hierzu sind eine Vielzahl von Anwendungen denkbar. Diese bergen enormes Transformationspotenzial für die Branche. Auf lange Sicht könnten sie das Geschäftsmodell der Versicherer verändern. So können Blockchain-Anwendungen die Customer Journey für Verbraucher*innen verbessern und gleichzeitig für Effizienzgewinne bei den Versicherern sorgen.
Zuletzt stieg die Anzahl der Cyberangriffe auf deutsche Unternehmen beträchtlich. Für Versicherer, die sensible Daten ihrer Kund*innen verwalten, ist das Thema IT-Sicherheit eine der wichtigsten Aufgaben. Wie geschützt sind Versicherungsinformationen, wenn sie digital unter diversen Schnittstellen ausgetauscht werden?
Grundsätzlich ist das Risiko für einen Cyberangriff immer da. Es ist nicht die Frage, ob es passiert, sondern wann. Genauso klar ist, dass mit wachsendem Datenverkehr auch die Anstrengungen für deren Absicherung steigen müssen. Hier treffen wir auf die nächste Herausforderung: die Verfügbarkeit von IT-Fachkräften. Die ist im Allgemeinen schon angespannt, in der IT-Security aber nochmal um Faktoren angespannter.
KRONGAARD-Experte Robert Fox warnt vor Cyber-Schulden. Wie steht es um die Verbindlichkeiten der Versicherer?
Ich würde es nicht Schulden nennen. Das suggeriert, dass die Versicherer in der Vergangenheit nicht ausreichend an ihren Sicherheitskonzepten gearbeitet haben. Das mag in einzelnen Situationen so sein, gilt aber sicher nicht branchenübergreifend.
Was wird diesbezüglich schon getan?
Ich arbeite beispielsweise mit einer Spezialfirma zusammen, die Angriffe auf Unternehmen simuliert. Wie echte Angreifende suchen sie sich den einfachsten Weg. Oft reicht dafür schon ein Besuch vor Ort und das Einklinken ins lokale Netzwerk aus. Durch diese Maßnahme erkennen und schließen wir Schwachstellen, ehe Kriminelle diese ausnutzen.
Start-ups aus der Versicherungsbranche bestimmen immer stärker das Tempo des Marktes. Ihr Ansatz: Schneller, besser, mehr versichern. Ganz bequem via App. Vertreter*innen oder Servicestellen gibt es nicht, das spart Kosten. Wie gefährlich sind solche „Insuretechs” mit innovativen Konzepten für etablierte Versicherungen?
Ich sehe Insuretechs eher als Bereicherung und Chance für die Branche. Sie zeigen den „Großen“, wie schnell, effizient und Nutzer*innen-fokussiert es funktionieren kann. Wettbewerb belebt das Geschäft! Aus Sicht der Kundinnen und Kunden definitiv ein Zugewinn!
„Gegenüber den klassischen Versicherungen sammeln sie damit Pluspunkte bei Privatkund*innen.“
Was machen Insuretechs besser?
Sie agieren frei von (technischen) Altlasten, flexibel und voll digitalisiert. Dadurch sind sie technologisch weiter und schneller. Zudem befinden sich meist einfache und nicht beratungsintensive Produkte im Portfolio. Gegenüber den klassischen Versicherungen sammeln sie damit Pluspunkte bei Privatkund*innen.
Wo haben die Big Player die Nase vorn?
Bei komplexen und erklärungsbedürftigen Produkten wie Lebens-, Renten- oder Krankenversicherung. Bei diesen Angeboten wird – meines Erachtens – den „Großen” mehr vertraut.
Selbst schwierige Projekte können sich jederzeit zu Erfolgsgeschichten wandeln. Im Jargon: Sie können von Rot auf Grün springen. Wie schaffen Sie als Berater den Turnaround bei alarmierenden Unternehmungen?
Jedes Projekt ist individuell. Unser Job ist es, möglichst schnell herauszufinden, was zum Erfolg beziehungsweise zum Erreichen der Ziele fehlt.
Wie gehen Sie vor?
Im ersten Schritt sammeln wir Fakten. Dafür spreche ich mit Auftraggebenden, Stakeholdern und Projektmitarbeitenden. Am Ende ergibt sich ein Mix aus sachlichen, personellen und emotionalen Einschätzungen. Aus den erhobenen Informationen leite ich entsprechende Handlungsempfehlungen ab.
Was sind das für Empfehlungen?
Das Ziel meines letzten Auftrags: ein Datacenter Cutover. Das ist die kontrollierte Überführung einer IT-Lösung in den operativen Betrieb. Dafür muss das Unternehmen das alte und neue System miteinander verzahnen und Daten transformieren. Das Projekt stand auf Rot, bis wir für das angestrebte Ziel nebensächliche Themen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben haben. Das hat für Transparenz gesorgt und Energie sowie Ressourcen im Projekt freigesetzt. Wir haben den vereinbarten Termin erfolgreich eingehalten.
Was darf bei keinem Projekt fehlen?
Transparenz, Fokussierung und Kommunikation! Gerade in diesem Punkt machen extern Beratende häufig den Unterschied.
Herr Barnack, zum Abschluss: Braucht die Versicherungsbranche mehr Dynamik von außen – zum Beispiel durch externe IT-Berater*innen und Strateg*innen?
Mehr Dynamik und frische Impulse können nie schaden! Allerdings müssen auch intern die Weichen für entsprechende Maßnahmen gestellt werden (können).