Herr Bachmann, die Politik spricht aktuell von Zeitenwende. Wie beurteilen Sie das sich wandelnde Leitbild für Deutschland als Energiestandort?
Tatsächlich erlebt Deutschland auch im Bereich Energie einen Paradigmen-Wechsel. Die ab Ende 2021 regierende Koalition handelt deutlich agiler und bietet viel mehr Perspektiven. Insbesondere im Ausbau der erneuerbaren Energien, der existentiell wichtig ist.
Bedeutsam ist auch die Umstellung von zentralen Kraftwerken auf die dezentrale Energieerzeugung. Autark wirtschaftende Stadtquartiere erzeugen und managen Strom und Wärme bald lokal. Zu den Quellen Wind und Sonne kommt eine dritte Säule: Geothermie, die Wärme aus der Erdkruste nutzt.
Inwieweit spielt die Digitalisierung in diesen Wandel hinein?
Nahezu alle Entwicklungen des Strommarkts hängen von der Digitalisierung und innovativer Mess- und Steuerungstechnik ab. Das System Redispatch 2.0 regelt beispielsweise taggenau die Übertragungskapazitäten der bundesweiten Stromnetze. Es erhöht bei Bedarf den Lastfluss (Leistungsfluss von spannungsführenden Verbindungen) und verhindert gleichermaßen eine Überlastung von Netzen. Künstliche Intelligenz erstellt die Prognosen, virtuelle Kraftwerke setzen die berechneten Kapazitäten zur richtigen Zeit am richtigen Ort um.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Erneuerbare Energien sind volatil und benötigen ob ihrer schwankenden Verfügbarkeit erhebliche Flexibilität. Ich empfehle, die 30 bis 40 Gaskraftwerke bedarfsweise einzubinden, betrieben mit Wasserstoff. Hersteller wie Siemens oder Hitachi beherrschen die relativ unaufwendige Umstellung auf diesen Brennstoff. Kohlekraftwerke brauchen wir in Deutschland also nicht mehr.
Flexibilität setzt auch das Speichern von Energie voraus. Die Umwandlung von erneuerbaren Energien in Wasserstoff eignet sich dafür ideal. Speicher- und Transportmöglichkeiten sowie Verteilernetze haben wir in Europa genug. Es fehlen nur die Produktionsanlagen für Wasserstoff.
Ist die Produktion von Wasserstoff heute schon effizient?
Im Jahr 2020 schüttete die Bundesregierung 750 Millionen Euro an Vergütungen für abgeschaltete Windanlagen aus. Diese Standorte eignen sich ideal für Elektrolyseure, die Produktionsanlagen für Wasserstoff. Die Windräder laufen durchgängig, doch die Last fällt nachts auf 20 % ab. Elektrolyseure wandeln die Energie in speicherbaren Wasserstoff um. Die Anlagen sollten an der Küste liegen, damit sie den immensen Bedarf nicht mit knappem Süßwasser decken.
Wie beurteilen Sie, dass andere Länder wieder auf Atomenergie bauen, sie sogar als nachhaltig einstufen?
Atomenergie ist aus verschiedenen Gründen nicht nachhaltig. Mit dem noch verfügbaren Uran 235 erreichen wir die Energiewende nicht. In absehbarer Zeit gibt es keinen Brennstoff mehr für Atomkraftwerke. Gegen Kernkraft sprechen auch die problematische Entsorgung der enormen Menhen von Abfällen und die häufigen Störungen der Anlagen. Frankreich schlitterte in den Wintern 2020 und 2021 knapp an einem Blackout vorbei. Große Kontingente erneuerbare Energien aus Deutschland sicherten den Bedarf. Anfang 2022 waren 17 von 52 französischen Atomkraftwerken nicht am Netz. Auch die drei neu gebauten noch nicht.
War der deutsche Atomausstieg also richtig?
Der Beschluss im Jahr 2011, die Kernkraftwerke umgehend abzuschalten, war eine katastrophale Fehlentscheidung der Politik. Besser hätte man sie auslaufen lassen, bis die Brennstäbe verbraucht sind. Diese gefährden uns nicht weniger, nur weil sie keine Energie mehr in die Netze einspeisen. Zumal die AKWs in Deutschland hochsicher sind!
Übrigens: 40 Länder betreiben Atomkraftwerke, 20 davon haben Nuklearwaffen. Das ist kein Zufall. Atomkraftwerke produzieren waffenfähiges Uran am einfachsten.
Deutschland ist von importierten fossilen Brennstoffen abhängig. In der Ukraine-Krise erinnert sich die Politik daran. Zu welchen Maßnahmen raten Sie der Bundesregierung?
Die Regierung hat über den “Europäischen Senat für Wirtschaft und Technologie”, dem ich angehöre, bereits einige Vorschläge bekommen. Nun warten wir auf ein Gespräch mit dem Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck. Wir wollen Deutschland von fossilen Brennstoffen lösen, keine neuen Quellen finden. Das LNG (Flüssiggas) aus Katar ist eine gute Übergangslösung. Noch besser wäre die Anlieferung der Pipeline
Durch Fracking gefördertes LNG aus den USA, tut mir leid, bewerte ich als absolut indiskutabel. Die zur Förderung verwendeten Chemikalien verunreinigen das Grundwasser. Dazu befürchten Fachleute durch den Fracking-Prozess erhöhten Methanaustritt. Dieses ist vielfach klimaschädlicher als CO2.
Damit sind wir wieder beim Wasserstoff.
Vor dem Krieg gab es Pläne für Windkraftanlagen in der Ukraine. Diese sollten der Wasserstoffherstellung dienen. Wir hätten die bereits vorhandene Pipeline nutzen können. Die EU stellte für die Umrüstung einige Milliarden Euro bereit. Sie wurden jedoch noch nicht abgerufen.
Alternativ könnten wir die Pipelines aus dem Iran über die Türkei bis nach Europa für Wasserstoff einsetzen. Der Brennstoff kann dort mit Windrädern produziert werden. Und damit unsere Erdgasspeicher füllen.
Die Regierung vor 2022 wollte hingegen in Chile oder Australien Wasserstoff produzieren und mit Stickstoff gebunden (Ammonium) nach Europa verschiffen. Der Plan war durch die zusätzlichen Prozesse und langen Wege maximal ineffizient.
Der Wandel des Energiemarkts beeinflusst die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Welche Prognosen geben Sie der deutschen Wirtschaft?
Die Industrie stellt sich bereits nachhaltiger auf. Größere Unternehmen müssen schon jetzt jährlich Nachhaltigkeitsnachweise erbringen. Meine E:E Consulting GmbH entwickelt zurzeit ein Produkt, mit dem klimaneutrale Energieversorger in Unternehmen oder Städten passende Alternativen zu Öl, Gas und Kohle planen können.
Welche konkreten Maßnahmen könnten daraus hervorgehen?
Beispielsweise sollten Gewerbeimmobilien mit Photovoltaik-Anlagen aufgerüstet werden. Die großen Flächen produzieren damit Strom, der direkt in den Hallen wieder verbraucht wird. Das macht Unternehmen unabhängiger.
Einige Industrien kommen mit Strom allein allerdings nicht aus. Die Stahl-, Zement- und Glasindustrie arbeitet in ihren Produktionsprozessen mit extrem hohen Temperaturen. Die kann der Energieträger Wasserstoff produzieren.
Essentiell für unsere Wirtschaft ist die Logistik. Wie wichtig bewerten deutsche Unternehmen die E-Mobilität?
Viele Unternehmen und Verbände stellen bereits auf Elektrofahrzeuge um. Sie verbinden das mit lokaler Energieerzeugung. E-Mobilität verbessert die Effizienz um 80 %: 15 kWh auf 100 Kilometer entsprechen lediglich 1,5 Liter Diesel oder Benzin!
Dazu werden Redox-Flow-Batterien (Flüssigbatterien) immer günstiger. Sie erlauben bis zu 100.000 Ladezyklen und verschleißen nicht. Herkömmliche Lithiumbatterien schaffen nur rund 3.000 Zyklen. Als
extrem rarer Rohstoff gilt Lithium auch nicht als zukunftsfähig.
Wie würde eine Abkehr von Gas und Öl aus Russland die E-Mobilität beeinflussen?
Es würde die E-Mobilität aus Angst vor weiter steigenden Kraftstoffpreisen weiter beflügeln. Zunächst sollten jedoch die Kartellbehörden in die Ölkonzerne schauen. Die massiv erhöhten Spritpreise schon einen Tag nach Beginn der Ukraine-Krise hatten mit der Realität nichts zu tun. Das war reines Bedienen. Anders erklären sich die dramatischen Strompreiserhöhungen. Die Grundversorger kaufen zu dem geplanten, gut kalkulierten Kontingent nun auf dem Spotmarkt Energie teuer dazu. Sie machen Verluste damit.
Die Entwicklungen rund um erneuerbare Energien sind noch lange nicht am Ende. Welche Themen von Start-ups und Forschungseinrichtungen sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden?
Viele Entwicklungen beschäftigen sich mit Speichermöglichkeiten. Sie sollen die schwankenden Kapazitäten von erneuerbaren Energien ausgleichen. Die notwendige Digitalisierung fokussiert die Künstliche Intelligenz für Prognose- und Steuerungsfunktionen bis hin zu virtuellen Kraftwerken.
Dazu können Start-ups bereits die Blockheizkraftwerke so optimieren, dass sie sogenannte Stromfahrpläne bereitstellen. Der errechnete Überschuss für den nächsten Tag können Betreiber an der Energiebörse handeln.
Herr Bachmann, Sie sind Senator im “Europäischen Senat für Wirtschaft und Technologie”. Welche Handlungsoptionen empfehlen Sie und der Expert*innen-Rat der Politik?
Zunächst müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen. Wir warten seit 15 Jahren auf die Fertigstellung der Nord-Süd-Trasse SuedLink. Und seit 15 Jahren darauf, dass die Windparks in der Nordsee angeschlossen werden. Sie beanspruchen selbst ohne Energie einzuspeisen ihre Vergütung.
Weiterhin unterstützen wir die sogenannte “Bürgerenergie”. Die Selbstversorgung von Kommunen wäre ein idealer Zustand. Die Menschen beteiligen sich an der dezentralen Stromproduktion durch Windkraftanlagen auf eigenen Flächen. Der lockende Ertrag reduziert auch die gesellschaftlichen Diskussionen um Abstände und Genehmigungen.
Bedenklich schätzen wir den Fachkräftemangel ein. Der behindert schon jetzt die Energiewende. Es gibt immer weniger lokale Handwerker*innen. Verstärkt wird dieser Trend dadurch, dass Frankreich vermehrt deutsche Energiedienstleister übernimmt. Die südlichen Länder indes leiden unter großer Jugendarbeitslosigkeit. Mit ihnen könnten wir Personallücken füllen. Auch mit osteuropäischen Kräften haben wir gute Erfahrungen gemacht.
Gegenüber der Politik plädieren wir für weniger Regulierung. Es gibt in Europa unzählige Eingriffsmöglichkeiten und Bremsen in den Verfahren.
Außerdem managen die flächenmäßig größten Netze keine deutschen Betreiber, sondern belgische und niederländische. Die Entscheidungen für deutsche Netze als Rückgrat der Energieversorgung sollten in Deutschland getroffen werden.