Entscheidungen treffen,
wo das Wissen ist.
Als Navy-Kapitän David Marquet um die Jahrtausende unerwartet das Kommando über das Atom-U-Boot Santa Fe erhielt, kannte er weder Boot noch Ausstattung im Detail. Auf einer seiner ersten Ausfahrten befahl er ein Manöver, welches die Santa Fe gar nicht durchführen konnte. Niemand aus seiner Crew widersprach ihm. Erst als der Offizier am Ende der Befehlskette ratlos dreinblickte, bemerkte der Kapitän, dass er einen unsinnigen Befehl erteilt hatte.
In diesem Moment begriff Marquet etwas Grundsätzliches: Jedes Crewmitglied kennt sich auf seinem Posten besser aus als er. Er kann gar nicht in der Lage sein, in jeder Situation die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, weil seine Soldaten in ihren Aufgabenfeldern deutlich mehr Detailwissen besitzen.
Agile Methoden im straffsten Unternehmen der Welt
Marquet verstand, dass der Job einer Führungskraft in einem komplexen Umfeld ein anderer ist. Er muss die Intention vermitteln und Potenziale seiner Mannschaft nutzen. Er muss ermächtigen statt Macht ausüben, befähigen statt befehlen. Das heißt: Selbstvertrauen vermitteln, das Richtige tun zu dürfen. Botschafter sein – nach innen und nach außen.
Lange bevor “Agilität” zum Buzzword in Management-Etagen wurde, etablierte David Marquet agile Managementmethoden in einem der am straffsten organisierten Unternehmen der Welt: der Marine der Vereinigten Staaten von Amerika.
Heute ist Marquet gefragter Speaker und Buchautor. Zahlreiche Unternehmen inspirierte er, neue agile Methoden auszuprobieren und bislang steife Organisationen in effizient funktionierende Einheiten zu transformieren.
Wachstum braucht entfaltete Wissensarbeiter
Wir erreichen also die besten Ergebnisse, wenn wir den Wissenden die Absicht vermitteln und ihnen dann den Raum geben, das Richtige zu tun. Die Erkenntnisse Marquets klingen plausibel. In der Managementpraxis gestaltet sich die Motivation solcher Wissensarbeiter, also von Menschen, die tieferes Wissen besitzen als ihre Vorgesetzten, jedoch sehr viel komplexer.
Innovationen sind das Wachstum von morgen. Innovationen werden durch talentierte Wissensarbeiter getrieben. Psychologen wie der Buchautor Guy Kawasaki appellieren, dass Manager nach Wissensarbeitern fahnden sollen, die auf einem Spezialgebiet besser sind als sie selbst. Doch bleiben in klassisch-hierarchischen Organisations- und Management-Kulturen oft Potenzial und Kreativität von diesen talentierten Mitarbeitern ungenutzt, weil sie keinen Raum zur Entfaltung finden. In diesem Umfeld sind sogar talentierte Wissensarbeiter eine Fehlinvestition. Wir müssen uns also fragen, wie wir diesen Freiraum für Entfaltung schaffen können.
Die intrinsische Motivation von Wissensarbeitern erschließen
Das Agile-Prinzip “Erschließe die intrinsische Motivation von Wissensarbeitern“ beruht auf den Erkenntnissen des sogenannten AMP-Modells.
Das AMP-Modell stammt von Daniel H. Pink. In seinem Buch “Drive: The surprising truth about what motivates us” beschreibt der Autor in Bezug auf zahlreiche Studien, dass Wissensarbeiter nicht nur mithilfe von sogenannten Incentives motiviert werden können. Sondern in ihnen eine natürliche Motivation wohnt, die es “lediglich“ zu erschließen gilt.
Als Schlüssel zu Potenzial und Kreativität von Wissensarbeitern identifiziert Pink drei wesentliche Motivatoren: Selbstbestimmung im Handeln (Autonomy), Beherrschung der Aufgabe (Mastery) und Sinnhaftigkeit eigener Beiträge (Purpose).
Offene Fehlerkultur und psychologische Sicherheit – die gelebte Managementpraxis ist entscheidend
Autonomy:
Wissensarbeiter sind stets bemüht, das Richtige zu tun. Wenn das Management ihnen die Freiheit dazu gibt, also die nötige Entscheidungskompetenz an sie oder das Team delegiert. Entscheidend ist zudem eine offene Fehlerkultur, in der Fehler nicht bestraft, sondern als Erkenntnisgewinn verstanden und geteilt werden. Das vermittelt jedem Einzelnen im Team psychologische Sicherheit. Ein kluger Manager nimmt sich zurück und verzichtet darauf, sich als Held zu profilieren. Er konzentriert sich auf die rahmengebenden Entscheidungen mit langer Laufzeit oder einer hohen wirtschaftlichen Bedeutung. Die kleineren, fachlichen Entscheidungen überlässt er seinen Mitarbeitern.
Mastery:
Das Streben nach stetiger Verbesserung ist Teil unserer Psyche und Basis für unseren Erfolg. Das Management muss für Wissensarbeiter die Kultur einer selbstlernenden Organisation kreieren. In dieser kann sich jeder die Informationen holen, die er benötigt und kontinuierlich neues Know-how aneignen. Ein hohes Maß an Transparenz kann dafür sorgen, dass jeder sein Wissen und damit auch eigene (Management-)Fehler offen teilt. So vermeiden wir, dass sich Fehler ständig wiederholen.
Purpose:
Wir Menschen sind sinnsuchende Wesen. Wir können uns nur dann gänzlich einbringen, wenn sich uns der Sinn und Zweck unseres Handelns erschließt. Deshalb ist es wichtig, Wissensarbeitern den Sinn und Zweck eines Vorhabens darzulegen. Dazu gehört es, im Team kritisch zu diskutieren und gemeinsam wirksame und messbare Etappenziele abzustimmen.
Kultur- und Verhaltenswandel – das Management ist am Zug!
Pinks Erkenntnisse sind ebenso simpel wie grundlegend. Doch oft bieten klassisch-hierarchische Organisationen keinen passenden Rahmen für die freie Entfaltung der Kreativpotenziale von hoch qualifizierten, teuren Wissensarbeitern. Diese Kultur kann nur das Management etablieren!
Intellektuell verstehen Manager, dass sie loslassen, den organisatorischen Rahmen bereitstellen und ein geeignetes Arbeitsklima schaffen müssen. Nur dann ermöglichen sie selbstbestimmtes Handeln, kultivieren das kontinuierliche Lernen und vergemeinschaften Mission und Vision.
Selbstverständliches ist nicht selbstverständlich
Was selbstverständlich klingt, ist in vielen Organisationen alles andere als selbstverständlich. Es ist für keinen Manager einfach, jahrelang antrainiertes Befehlsverhalten per innerem Beschluss abzulegen. Häufig fallen sie unbewusst und reflexartig in alte, wenig gedeihliche Verhaltensweisen zurück. Das kann die wochenlange Aufbauarbeit von Vertrauen zunichtemachen.
Für jeden noch so erfahrenen Manager ist das ein steiniger Weg. Er führt über das Verstehen und Verinnerlichen neuer Sicht- und Verhaltensweisen. Manager müssen bereit sein, diesen Pfad zu gehen. Sie transformieren sich unterwegs von einer befehlenden Führungskraft zum dienenden Anführer, zum Servant Leader. Ein moderner Manager fragt nicht: „Was wollt ihr tun, um meine Zielvorgabe zu erreichen?” Er fragt stattdessen: „Was kann ich für euch tun, damit wir unser gemeinsames Ziel erreichen?“
Nur wer die Psyche seiner Mitarbeiter versteht, sich als dienender Anführer seines Teams begreift, schafft einen gedeihlichen Rahmen für Innovation, Wachstum und Erfolg. Die Aufgaben eines Managers sind dabei vielfältig. Er muss ermächtigen, ertüchtigen, unterstützen und behüten. Und er muss sich selbst als Teil eines großen Ganzen sehen.
Auf diesem Weg begleitet ein Professional Agile Coach zunächst das Management und – bei Bedarf – später auch die Teams. Als lösungsfokussierter Interviewer, situationserfahrener Mentor und agiler Transformationsberater begegnet er Herausforderungen. So setzt er Schritt für Schritt die nötigen Veränderungen in Bewegung.
Wie eine Autofahrt im Morgennebel
Seit mehr als 20 Jahren beschäftige ich mich mit Agilem Arbeiten. Als langjähriger Unternehmer und Manager im Software-Bereich habe ich selbst erlebt, wie wichtig es ist, das eigene Führungsverhalten kritisch zu betrachten. Wir Führungskräfte müssen kontinuierlich an unseren Aufgaben und unserer Verantwortung wachsen. Der Erfolg eines Vorhabens, eines Fachbereichs oder gar eines ganzen Unternehmens hängt häufig von diesen feinen Mosaiksteinen ab.
Wenn ich Führungskräfte coache, bemühe ich gerne das Bild einer Autofahrt im Morgennebel. Die Straße liegt verborgen im weißen Dunst. Selbst mit modernsten Nebelscheinwerfern können wir nur ein paar Meter vorausschauen. Was danach kommt, können wir lediglich erahnen. Doch wir haben ein Ziel, eine Idee davon, wo wir hinwollen. Wir tasten uns langsam vor, kommen weiter, fahren auf Sicht, lernen immer besser mit spontanen Unwägbarkeiten umzugehen, gewinnen an Sicherheit und meistern unseren Weg.
Auch bei komplexen Veränderungsprozessen und Entwicklungsvorhaben ist es wichtig, stets auf ‚Sicht zu fahren‘. Ein längerfristiger oder wasserfallartiger Plan bringt dabei keinerlei Nutzen. Denn keiner dieser Pläne kann die Kollision mit der Wirklichkeit überleben. Wir wissen nicht, was im weiteren Verlauf eines komplexen Veränderungsprozesses alles passieren wird. Aber wir wissen, dass wir schrittweise (iterativ) und aufeinander aufbauend (inkrementell) vorgehen sollten. Wir müssen Situationen durchlaufen und Erfahrungen sammeln, lernen mit dem Überraschenden umzugehen und Entscheidungen zu überdenken. Dann sind wir gewappnet.
Fazit: Agile Strukturen brauchen veränderte Führung
Mit der zunehmenden Einführung von agilen Arbeitsweisen und Business Agility steht unsere Arbeitswelt vor einer der größten sozio-ökonomischen Umwälzungen überhaupt. Agiles Arbeiten ist nicht nur „alter Wein in neuen Schläuchen“, sondern eine vielschichtige Veränderung, die hohen Nutzen und Wettbewerbsvorteile bringen kann. Wenn wir sie richtig verstehen, umsetzen und kultivieren. Das kann – frei nach William Edwards Deming – nur das Management leisten. Es muss wissen, was zu tun ist.
Noch mal zusammengefasst: Agile Führungskräfte leiten den kulturellen Wandel und leben die neue Kultur. Sie sind Vorbild für Verbindlichkeit, Offenheit, Mut, Respekt und Fokus. Manager motivieren, delegieren, vertrauen und vermitteln. Sie schaffen einen psychosozialen Rahmen von Ermächtigung, Befähigung, Sinnhaftigkeit und psychologischer Sicherheit, in dem sich Wissensarbeiter in selbstbestimmten Teams frei entfalten und ihr Kreativpotenzial voll ausschöpfen können. Sie unterstützen die Optimierung des großen Ganzen vor dem Eigenen. Sie sind Architekten der Organisation, Dirigenten der Kollaboration, Coaches der Teams und Visionäre des Geschäftsmodells.
Zu viel für einen Menschen?
Nein, gute Manager schaffen das!