Herr Sattlberger, gleich zu Beginn zum Kern des Gesprächs. Es geht um Nearshoring. Damit keine Missverständnisse entstehen: Was ist damit gemeint?
Wir müssen unterscheiden. Es gibt das IT-Nearshoring, das momentan etwa 70 Prozent der Marktbewegung ausmacht. Dazu kommt das Industrial-Nearshoring, über das wir heute in diesem Interview sprechen. Das lässt sich im Grunde leicht zusammenfassen. Es geht darum, dass Teile für die Produktion wieder aus regionaler Nähe bezogen werden.
Viele Leserinnen und Leser werden den Begriff das erste Mal hören. Warum wird das Thema »Nearshoring« momentan für viele Unternehmen spannender?
Den Begriff gibt es schon seit etwa 15 Jahren, er ist nicht ganz neu. Zuletzt mussten Unternehmen spüren, wie anfällig ihre Lieferketten sind. Dazu wurde deutlich, welche schwerwiegenden Auswirkungen eine gestörte Supply Chain haben kann. Diese Probleme waren und sind hausgemacht. Durch das Offshoring, das eigentlich ein Farshoring ist, wurden wichtige Produktionsschritte in weit entfernte Länder ausgegliedert. Jetzt zeigen sich die Probleme, die aufgrund dieser Distanz entstehen können. Das Nearshoring ist für viele Unternehmen eine Art Korrekturmaßnahme.
Zwar wird ein Bauteil in Asien preiswerter hergestellt, doch dafür steigen woanders die Kosten. Dazu kommt das Problem, dass das Korrigieren von Fehlern aufgrund der Distanz oft länger dauert.
Die Anzahl der Unsicherheiten ist in der Vergangenheit stark gestiegen. Militärische Konflikte. Die Pandemie. Ein Frachter, der den Suezkanal verstopft. Ist das Nearshoring das Ergebnis einer in die Unsicherheit kippenden Welt?
Das sind alles relevante Faktoren. Aber sie betreffen nicht die Wurzel. Tatsächlich sind es zumeist ökonomische Gründe, die Unternehmen zum Umdenken bewegen. Wichtig ist ein Begriff: TCO. Die Abkürzung steht für Total Cost of Ownership. Dabei geht es darum, wie viel ein Produkt einem Hersteller insgesamt kostet. Wer diesen Wert ausrechnet, stellt fest, dass das ferne Ausland oft gar nicht günstiger ist. Zwar wird ein Bauteil in Asien preiswerter hergestellt, doch dafür steigen woanders die Kosten. Dazu kommt das Problem, dass das Korrigieren von Fehlern aufgrund der Distanz oft länger dauert. Außerdem steigen Risiken, wenn Transportwege sehr lang sind. Wer sich mit dem TCO auseinandersetzt, findet gute Argumente für das Nearshoring.
Sie haben mehrere Jahre in den USA gearbeitet. Wie haben Sie das Thema Nearshoring dort erlebt?
Im Vergleich zu den USA hinkt Europa deutlich hinterher. Die Reshoring-Initiative vom Ökonomen Harry Moser, mit dem ich in Neuengland zusammenarbeitete, wurde lange belächelt. Nun ist sie sehr wichtig für den wirtschaftlichen Aufschwung in Übersee.
»Reshoring« ist ein neuer Begriff. Was meinen Sie damit?
Es geht um die Wiederansiedlung von Unternehmen im ursprünglichen Heimatland. In den USA wächst seit Jahren die Anzahl der sogenannten Manufacturing Jobs. Das sind die Arbeitsplätze in den Fabriken. Die Industrie, die vor vielen Jahrzehnten nach Asien outgesourced wurde, kehrt schrittweise zurück. Das hat sicher politische Gründe, aber auch hier dominiert letztlich die Ökonomie. Asien ist längst nicht mehr so »billig« wie früher. Der TCO ist teilweise geringer, wenn Unternehmen lokal produzieren.
Wie hat die Reshoring-Initiative in den USA so an Dynamik gewonnen?
Dadurch, dass die Trump-Regierung die Zölle auf auswärtige Waren erhöht hat, wurden Unternehmen zur Veränderung gezwungen. Sie mussten sich stärker mit dem TCO beschäftigen – und haben einiges verstanden.
Lag es vielleicht nur an diesem »künstlichen« Kostendruck?
Wenn überhaupt, dann initial. Mittlerweile haben viele US-Unternehmen festgestellt, wie hoch die versteckten Kosten beim Offshoring sind. Neben den steigenden Lohnkosten, den Lieferaufwänden, dem Risikomanagement kommen Themen wie die IT dazu. Harry Moser hat eigens dafür einen TCO-Rechner entwickelt. Mit diesem können Firmen herausfinden, wie teuer ein vermeintlich günstiges Produkt tatsächlich ist. Jedes Unternehmen sollte sich zwingend fragen: Wie teuer wird es wirklich?
Auch beim Thema Innovation sehe ich eine beschleunigende Wirkung durch das Nearshoring.
Neben dem Thema Kosten, das ausführlich analysiert wurde: Was bringt Nearshoring noch?
Einerseits einen direkten Zugang zu Talenten, die es in Nachbarländern gibt. Aufgrund der fehlenden lokalen Alternativen sind sie sehr interessiert an neuen Jobs. Dazu kommen die kürzeren Wege, die nicht nur Einsparungen bei den Transportaufwänden mit sich bringen. Wenn man etwas braucht, ist das Bauteil aus dem Umland innerhalb von ein paar Werktagen da. Muss es Tausende Kilometer und diverse Zölle passieren, kann es jedoch Wochen dauern. Auch beim Thema Innovation sehe ich eine beschleunigende Wirkung durch das Nearshoring.
Warum?
Bei Innovationen oder Prozessveränderungen braucht es immer eine gute Kommunikation zwischen Menschen. Nur dann kommen neue Informationen schnell und richtig an. Wenn wir uns weiter am Beispiel China orientieren, gibt es zwei Hindernisse: die Sprache und die kulturellen Unterschiede. Nicht, dass irgendetwas besser als das andere ist. Darum geht es nicht. Aber der Austausch zwischen München und Warschau wird wahrscheinlich flüssiger und mit weniger Vorurteilen ablaufen als zwischen München und Shanghai.
Auch das Thema Rechtssicherheit ist aufgrund regionaler Unterschiede relevant. Bei Konflikten innerhalb von Europa ist es relativ sicher, dass es mit rechten Dingen zugeht. Sind verschiedene Kontinente im Spiel, kann es für alle Seiten komplexer werden.
Die Vorteile des Nearshorings sind eindeutig. Bleibt die Frage: Sind diese bereits in den Führungsetagen der Unternehmen angekommen?
Es gibt ein breites Interesse an diesem Thema. Das zeigt zumindest eine Studie aus dem Umfeld der Boston Consulting Group. Im Vorjahr gaben weit mehr als 60 Prozent der deutschen Unternehmen an, dass sie das Thema »Regionalisierung« künftig treiben möchten.
Apropos »treiben«. Europäische Regulierungen könnten dabei auch wichtig sein. Gesetze wie das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz zwingen Unternehmen zu einem detaillierten Blick auf die Lieferketten.
Das mag sein, ich spreche aber bewusst von bürokratischen Monstern.
Warum?
Weil sogar die großen Unternehmen mit diesen Anforderungen richtig kämpfen werden. Der Mittelstand ist fast aufgeschmissen. Auch stellt diese Regulatorik die Arbeitsteilung – ein zentrales Prinzip der Markwirtschaft - infrage.
Die Überwachung der Gesetzestreue mit der Lieferkette zu verknüpfen wirft den Unternehmen Knüppel zwischen die Beine und sollte wohl nicht deren Aufgabe sein.
Das ist eine mutige Aussage.
Wenn ein Unternehmen sich ein Bauteil besorgt, interessiert es vorrangig, wie teuer das Element ist, wann es kommt und ob die Qualität stimmt. Alles Weitere ist aus ökonomischer Sicht irrelevant. Zumal ich mich wirklich frage, wie Unternehmen nachvollziehen sollen, wer alles an einem Bauteil beteiligt ist. Daran können weit mehr als 30 direkte Lieferanten beteiligt sein, die wiederum 30 oder mehr Lieferanten haben. Über nur 5 Lieferketten-Stufen werden bis zu 305 Parteien betroffen sein, das sind mathematisch schon 24,300.000. Wie soll ein Unternehmen über das Verhalten von 24 Millionen Lieferanten und Sub-sub-sub-sub-Lieferanten informiert bleiben?
Eine andere Frage über das ökonomische hinaus, ist die Einhaltung von Gesetzen und Menschenrechten. Die Überwachung der Gesetzestreue mit der Lieferkette zu verknüpfen wirft den Unternehmen Knüppel zwischen die Beine und sollte wohl nicht deren Aufgabe sein.
Die hohe Flexibilität und Effizienz der marktwirtschaftlichen Arbeitsteilung besteht ja auch gerade darin, dass sich die Unternehmer vorrangig auf ihren Teil der Wertschöpfungskette konzentrieren können. Diese Lieferkettensorgfaltspflicht-Regelung könnte eher dazu führen, dass europäische Unternehmen benachteiligt werden.
Abseits der Bürokratie: Welche selbst geschusterten Probleme haben deutsche Firmen noch?
Da gibt es einige. Das markanteste Beispiel ist der Einkauf. Der ist in vielen Unternehmen ein Stiefkind. Alle reden über Vertrieb und Marketing, dabei können sich Organisationen gerade im Einkauf wirtschaftliche Flexibilität verschaffen. In vielen Industrieunternehmen ist dieser Bereich für 60 bis 70 Prozent der Unternehmenskosten verantwortlich. Wenn hier fünf Prozent gespart werden, bringt das mehr Geld, als wenn der Vertrieb ein paar Prozent Umsatz rausholt. Viele Unternehmen haben nicht verstanden, welches Potenzial und welche Risiken im Einkauf stecken. Erst durch Covid hat das ganze Thema Supply Chain mehr Relevanz bekommen.
In welchen Branchen könnte das Nearshoring besonders viel Potenzial bieten?
Elektronik, Möbel, Kleidung. Dort, wo sich die Wirtschaft schnell bewegt, lässt sich rasch etwas verändern.
Und wo wird das Nearshoring eher kompliziert?
Immer, wenn wir über Zero-Non-Compliance sprechen, also über »Null-Kompromiss«. Besonders in den Bereichen Automotive und Aerospace gibt es extrem hohe Sicherheitsstandards. Diese sorgen dafür, dass man einen Lieferanten nicht einfach austauschen kann. Und selbst wenn man es fachlich könnte, kostet das Onboarding eine Unsumme. So ist schnell klar, dass sich der Wechsel ökonomisch kaum lohnen wird. Zurzeit sehen wir am Beispiel Boeing, wie sensibel diese Branchen sind. Und wie fatal es endet, wenn irgendwo im Produktionsprozess geschludert wird. Im Nearshoring raten wir grundsätzlich: Nehme keine Abkürzungen in Bereichen, in denen es keine Fehlertoleranz gibt.
Bleiben wir bei den Branchen, die sich das Nearshoring unmittelbar leisten sollten. Gibt es Regionen, die für Mitteleuropa besonders relevant werden?
Das sind einige. Osteuropa, der Balkan, aber auch Südeuropa passen gut in viele Profile. Die Ukraine, die auf dem Weg war, ein etablierter Standort für Elektrotechnik zu werden, ist leider auf katastrophale Weise zurückgeworfen worden. Übrigens ein Land, das häufig vergessen wird, aber sehr viel Potenzial bietet: die Türkei.
Was ist wichtig, damit Unternehmen die richtigen Regionen für das Nearshoring der Produktion auswählen?
Sie sollten die Cluster kennen. Es haben sich in einigen Ländern spannende Schwerpunkte herauskristallisiert. In Rumänien, genauer in Siebenbürgen, gibt es eine unfassbar fitte Software- und IT-Szene. Da stoßen Unternehmen auf große Potenziale. In der Türkei haben sich dagegen Cluster für die Automobilbranche gebildet. Diese sind für Deutschland bereits interessant, werden aber eher noch an Bedeutung gewinnen.
Was ist der Vorteil dieser Cluster?
Dass das Know-how nicht angelernt werden muss. Es ist bereits da. Noch dazu kommt die vorhandene Infrastruktur. Unternehmen setzen sich fast in ein gemachtes Nest.
Die Frage ist: Wie gut ist es auf den Führungsetagen um das Wissen zu den Clustern bestellt?
CEOs müssen diese nicht selbst kennen. Aber in Unternehmen sollte das Wissen unbedingt vorhanden sein. In den Spezialabteilungen oder über Beraterinnen und Berater.
Und nicht immer ist Near- oder Reshoring das Ergebnis meiner Arbeit. Denn es kann auch Marktsituationen geben, in denen andere Ansätze vielversprechender sind.
Sie selbst haben schon angedeutet, dass Sie Unternehmen im Nearshoring beraten. Wo sehen Sie Ihre Kompetenzen?
Ich unterstütze Unternehmen bei der Ertragssteigerung. Das ist ein Prozess, der bei der Strategie beginnt und dann einen starken Fokus auf die Umsetzung setzt. Und nicht immer ist Near- oder Reshoring das Ergebnis meiner Arbeit. Denn es kann auch Marktsituationen geben, in denen andere Ansätze vielversprechender sind. Zum Beispiel die Idee »local to local«. Die Produktion wird dann komplett in den Regionen abgewickelt, in denen auch verkauft wird. Die Produkte laufen vom Band direkt ins Kaufhaus. In den USA sehen wir das zum Beispiel bei den deutschen Autobauern. Dort kann es Sinn ergeben, weitere Produktionsschritte in die Nähe dieser Märkte zu bringen.
Haben Sie ein ganz klassisches Beispiel für Nearshoring, das jedes Unternehmen betreffen könnte?
Reden wir über Logistik. Ich beriet mal ein Unternehmen, das auf viel zu hohen Lagerbeständen saß. Ein Produkt wartete nicht etwa 30 oder 60 Tage auf die Auslieferung oder Weiterverarbeitung, sondern 280. Das ist katastrophal! Dieser Bestand bindet finanzielle Mittel, die woanders fehlen. Schlimmstenfalls muss man sogar große Teile des Lagers abschreiben. Ein Desaster.
In dieser Situation muss man verstehen, warum es so weit kam. In diesem führten Covid und andere Ereignisse dazu, dass das Unternehmen mit dem Hamstern begann.
Das ist übrigens ein generelles Symptom schwacher und zu langer Lieferketten. Aus Angst, dass keine Ware kommt, wird zu viel gekauft. Unzählige Unternehmen teilen dieses Schicksal. Sie hätten es nicht, wenn Lieferketten kürzer und damit stabiler wären. Andererseits gibt es Fälle, in denen Firmen monatelang auf essenzielle Güter warten und nicht handlungsfähig sind. Auch hier kann Nearshoring helfen.
Was ist der größte Fehler, den jedes Unternehmen zu Beginn eines Problems machen kann?
Nichts zu tun. Also, wie die Ente auf dem See zu warten, bis der Jäger kommt. Dazu denken viele Unternehmen zu funktional, aber nicht strategisch langfristig. Der Vertrieb will so viel Geld wie möglich verdienen – das Produkt muss bitte günstig sein. Der Produktionsleiter will möglichst wenig Lagerkapazität. Die Ingenieure erwarten die beste Qualität. Der Einkauf will es so pragmatisch wie möglich. Wenig Aufwand bedeutet die optimale Lösung. Die Abteilungen arbeiten aneinander vorbei, alle aus einem verständlichen Interesse. Genauso entstehen aber langwierige Schwierigkeiten wie zu volle Lager.
Welche Rolle fehlt in diesem Prozess?
Vielleicht gar kein spezialisiertes Profil. Eher Personen mit gesundem Geschäftsverstand, die diesen ganzen Prozess bündeln, die Menschen und Erwartungen zusammenbringen. Die das Thema Lieferkette gesamtheitlich betrachten – vom Einkauf bis zum Vertrieb.
Was könnten die Chancen für die EU sein, wenn Unternehmen das Thema Nearshoring forcieren?
Europa würde stärker werden, eben weil wir mehr Wertschöpfung auf dem Kontinent halten. Dazu könnten die Länder durch die Wirtschaft enger zusammenwachsen. Das Re- und Nearshoring von Industrie könnte die europäische Idee stärken.