Experten wie Wolf Lotter beschreiben seit Jahren die Transformation von der industriellen Arbeit zur Wissensarbeit. Das Know-how wird damit endgültig zum wichtigsten Rohstoff vieler Unternehmen. Wissensmanager wie Martin Luckmann sorgen dafür, dass Organisationen diese Ressource systematisch und vollumfänglich schürfen können. Sie dokumentieren internes und externes Wissen, machen dieses für alle relevanten Personen aufrufbar. Das Problem: Lange Zeit wurde das Wissensmanagement eher schlecht als recht behandelt.
Warum das Wissensmanagement wichtig ist
Herr Luckmann, Sie beraten seit vielen Jahren erfolgreich im Wissensmanagement. Ein Thema, das jedes Unternehmen betrifft, aber etwas unter der Oberfläche schwimmt. Man könnte sagen: Noch nicht als relevant wahrgenommen wird. Warum ist das für Firmen ein Problem?
In den meisten Organisationen – übrigens auch im Non-Profit- und Government-Bereich – findet man Wissensmanagement generell wichtig und richtig. Allerdings können die Verantwortlichen die inhaltlichen Aspekte und ihre Auswirkungen kaum greifen. Daher blieb das Wissensmanagement in den jeweiligen Abteilungen oft ein Schönwetterthema. Erst durch die gestiegene Anzahl der Schadangriffe mit Ransomware mit (vorübergehenden) Datenverlusten wächst die Wertschätzung für ein gezieltes Wissensmanagement.
Wo stehen deutsche Unternehmen und Institutionen beim Thema Wissensmanagement?
Es gibt viel zu tun. Durch die bekannten Veränderungen und Disruptionen in der Wirtschaft müssen wir genau hinsehen und differenzieren: Welches Wissen brauchen wir noch? Welches nicht? Wo müssen wir Know-how abstrahieren, damit wir es neu konkretisieren können?
Die akuten Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft führen dazu, dass beim Thema Wissensmanagement alle auf den Start zurückfallen. Die, die sich in der Vergangenheit intensiver damit auseinandergesetzt haben, müssen nun „ausmisten“. Andere dagegen endlich loslegen.
“Die Vokabel „Prozess“ hat in der öffentlichen Verwaltung eine andere Bedeutung als in der Wirtschaftswelt.“
Wie unterscheidet sich die Situation zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Projekten?
Bestenfalls kulturell. Die juristisch geprägte Verschriftlichung im öffentlichen Sektor hilft bei der Dokumentation von Wissen. Allerdings wird hier zu oft alles dokumentiert, was nicht „niet- und nagelfest“ ist. Man berücksichtigt nicht, was einen Wert hat und was nutzlos ist. Und leider wird zu oft nicht verstanden, was man da eigentlich verschriftlicht, sobald es um Prozesse oder Technik geht. Die Vokabel „Prozess“ hat in der öffentlichen Verwaltung eine andere Bedeutung als in der Wirtschaftswelt. In der eher technologisch-wirtschaftlich geprägten Kultur gibt es zwar mehr Sachverstand. Aber die Lust, dieses Wissen auch zu dokumentieren, ist nicht sehr verbreitet. Wenn man IT studiert hat, sieht man seine Zukunft ja nicht unbedingt in der Textverarbeitung. Sonst hätte man gleich Germanistik wählen können. Und das ist auch verständlich.
Es gibt einen schönen Satz in Ihrer Branche: Wenn ein Konzern wüsste, was ein Konzern alles weiß. Beinahe philosophisch. Was ist gemeint?
Menschen, die in ihrer Organisation verantwortlich für das Funktionieren von etwas sind und Erfahrung haben, wissen, was sie tun. Mit ein wenig Glück können sie ihr häufig unbewusst gespeichertes Wissen bei Bedarf an einen Newbie weitergeben. Zumindest dann, wenn dieser aus dem gleichen Fach kommt und die Zusammenhänge grundsätzlich versteht. Wenn andere - womöglich – externe Kolleginnen und Kollegen ihre Fragen stellen, geht jedoch oft die Jalousie runter.
Weil die Betroffenen Ihr Wissen schützen möchten?
Nein, gar nicht aus Widerstand. Eher, weil sie selbst die konkrete Antwort nicht auf Knopfdruck parat haben. Wenn Menschen aus heiterem Himmel nach den Geheimnissen Ihrer Alltagsarbeit gefragt werden, fällt vielen nur ein Bruchteil als Auskunft ein. Manche bleiben anschließend verunsichert zurück und fragen sich, was sie eigentlich den ganzen Tag tun.
Was sind abseits von verschwendeten Potenzialen die katastrophalsten Fehler, die Organisationen beim Wissensmanagement machen?
Dass das Management die Wertschöpfung aus einem funktionierenden Wissensmanagement nicht kennt oder sie unterschätzt. Die Folgefehler liegen dann in der Umsetzung. Früher lag das Hauptaugenmerk auf der Dokumentation, also der Speicherung von Informationen für alle Fälle und auf Vorrat. Wichtiger ist aber die Anwendbarkeit von diesem Wissen und dessen Transfer an diejenigen, die es brauchen. Wir kennen alle das gern zitierte „historisch gewachsene“ Wissen. Wenn das Wort fällt, jagt es mir inzwischen eine Gänsehaut über den Rücken. Ich weiß ab diesem Moment: Okay, jetzt gibt es Arbeit.
Warum ist historisch gewachsenes Wissen schlecht?
Weil es an die individuellen Erfahrungen der Beteiligten geknüpft und mit dem „alten“ Kontext verbunden ist. Damit ist es für Außenstehende oder Neueinsteigende schwer vermittelbar. Und wenn Wissen nicht verstanden wird, ist es unbrauchbar.
Mit welchem praktischen Beispiel aus dem Alltag können Sie das verdeutlichen?
In einem sehr großen Projekt soll der Betrieb der Netzinfrastruktur ingesourced werden. Der bisherige Betreiber hat das Netz aufgebaut. Er kennt es wie seine Westentasche. Der neue Betreiber muss jedoch aufgebaut werden. Das heißt: Er muss das Netz fachlich und prozessual verstehen. Erst wenn er das kann, lässt sich der Betrieb sicher übernehmen. Die internen Mitarbeitenden müssen beispielsweise die Behebung von Störungen lernen. Die Trainerinnen und Trainer des bisherigen Betreibers nannten dieses unübersichtliche Feld den „wilden Zoo“, weil es so viele und unterschiedliche Störungen gibt. Das macht den Wissenstransfer extrem kompliziert.
Wie lösen Sie als Experte dieses Problem?
Ich habe mich mit vier Mitarbeitenden des bisherigen Betreibers für ein paar Workshops eingeschlossen. Wir haben in dieser Zeit die einzelnen Störungsarten abstrahiert, also übergeordnete Typen festgehalten. So ließ sich eine übersichtliche Anzahl von Störungsmustern definieren. Diese 34 Muster haben wir dann dokumentiert und standardisiert. Am Ende ließ sich das jeweilige Lösungsmuster auf einer Seite beschreiben. Für die neuen Betreiber sind die Störungen nun auf einen Blick erkennbar und damit lösbar.
Oft werden Themen für Organisationen erst relevant, wenn sie Schmerzen verursachen. Sprich: Geld kosten. Und das nicht wenig. In welcher Höhe lässt sich der Schaden von schlechtem Wissensmanagement annähernd beziffern?
Ich würde eher positiv formulieren: In einem gut gesteuerten und umgesetzten Wissensmanagement steckt ein sehr großes Einsparungspotenzial. Denn in dieses Wissensmanagement ist auch der sogenannte „kontinuierliche“ Verbesserungsprozess integriert. Es ist eher pull- als pushorientiert. Das heißt: Die Betroffenen können das Wissen bei Bedarf selbst heranziehen. Dafür muss das Wissen jedoch aufbereitet werden und auf „Knopfdruck“ einsetzbar sein.
Abseits davon, dass Wissen nicht on demand verfügbar ist: Was sind andere typische Fehler im Wissensmanagement?
Ich erlebe als externer Berater – nach fast 50 Projekten – immer wieder, dass das WAS in den Unternehmungen höher bewertet wird als das WIE. Ich halte das für einen gefährlichen Irrtum. Es besteht die Gefahr, dass mit der Beendigung von diesen Projekten die Nachhaltigkeit stirbt.
Das müssen Sie erläutern.
Ein Beispiel sind die vielen Start-ups, Labs und Inkubatoren vieler Unternehmen. Sie wurden oft aus guten Gründen gestartet. Viele erarbeiten sich eine hohe und erfolgreiche Autonomie. Aber das Unternehmen, das ihnen den Start ermöglicht hat, erhält zwar Geld (das WAS), aber kein Wissen (das WIE) zurück. Es bleibt dumm. Ich bezeichne das, was ich für erforderlich halte, als ROI2: Return of Investment x Return of Intelligence.
“Oft ist das ausscheidende Wissen nicht mehr brauchbar.“
Besonders wenn Mitarbeitende plötzlich das Unternehmen verlassen, sind die Folgen eines unzureichenden Wissensmanagements fatal. Warum?
Ich bezweifle, ob diese Aussage generell stimmt. Wir erleben momentan einen großen Umbruch. Nach diesem wird kaum etwas so bleiben, wie es vorher war. Schauen Sie in einen Volkswagen mit Verbrennermotor und in einen Tesla und Sie fragen sich: Wohin mit den vielen Motor- und Powertrain-Ingenieuren, wenn Elektromobilität die Zukunft ist? Wofür brauchen wir dann ein ausgeklügeltes Wissensmanagement über eine Technologie, die nicht mehr weitergeführt wird? Gleiches gilt für die bisherigen globalen Einkaufsprozesse, die sich verändern werden. Oft ist das ausscheidende Wissen nicht mehr brauchbar. Wichtiger ist: Gibt es etwas dahinter, was sich zu schürfen und zu transferieren lohnt?
Wie wirkt sich die Fluktuation in Unternehmen auf das Wissensmanagement aus?
Ich bin unsicher, ob sie gut oder schlecht für eine Organisation ist. Es kommt darauf an, was das Management daraus macht. Grundsätzlich müssen Unternehmen nach personellen Veränderungen zunächst die Balance wiederfinden. Das geht nur mit den bisherigen Expertinnen und Experten, also den aktuellen Mitarbeitenden. Es muss demnach neues Wissen aus dem alten destilliert werden. Kein bisheriges Wissen darf ohne Rüttelstrecke weiter angewandt werden.
Was meinen Sie mit „Rüttelstrecke“?
Dabei wird das Unwichtige vom Wichtigen getrennt. Beim Goldschürfen beispielsweise das wertlose Sediment vom Edelmetall.
Wie sieht dieser Prozess in Unternehmen idealerweise aus?
Es bedarf intensiver Methoden, damit man vorankommt. Die Frage lautet nicht „Wie haben wir es bisher gemacht?“, sondern: „Wie können wir mit den bisherigen Erfahrungen, Erkenntnissen und Ressourcen etwas Tragfähiges auf die Beine stellen, das den neuen und künftigen abzeichnenden Bedingungen genügt und gleichzeitig jederzeit wieder umbaubar ist?“ Und das muss gesteuert und angeleitet werden.
Apropos Veränderung. Mittlerweile haben sich durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie viele Remote-basierte Arbeitsmodelle durchgesetzt. Wie verändert sich das Wissensmanagement durch das Homeoffice und andere Umstrukturierungen?
Für die Arbeit von zu Hause oder Co-Working Spaces aus ist ein schneller, digitaler und sicherer Zugriff zum Wissen unabdingbar. Ich kann nicht mehr ins Büro nebenan gehen und spontan nachfragen. Auch Telefon und Messenger helfen nicht immer. Dass ich diejenigen sofort antreffe, die das Wissen haben, ist ungewiss. Deswegen muss das Wissen auf Knopfdruck verfügbar sein. Im Intranet und das gut strukturiert und mit smarter Suche. Auch muss es so verständlich aufbereitet sein, dass die Kolleginnen und Kollegen es leicht nutzen können. Ich denke, dass in einigen Unternehmen bald Wissensredakteurinnen und Wissensredakteure völlig normal sind. Denn sie erfüllen genau diese Aufgabe. Ähnliche Rollen gibt es bereits im Bereich der Lernplattformen. Das Ziel dieser Angebote ist das Gleiche: Wissen anwendungs- und zeitgerecht bereitzustellen.
Vielerorts wird ein Mangel an Expert*innen und Fachkräften beklagt. Kann die exzellente Speicherung und Steuerung von Wissen das Fehlen von Know-how kompensieren?
Nein. Wissen ist nur werthaltig, wenn es am Leben gehalten wird. Und das können allein die Menschen, die es anwenden. Ich halte das Beklagen eines Fachkräftemangels für Jammerei. Organisationen, die sich beschweren, sollten lieber ihre Prozesse und ihr Verhalten am Markt selbstkritisch hinterfragen und entsprechende Konsequenzen ziehen. Die geeigneten Mitarbeitenden sind nicht weg, sondern woanders.
Erzählen Sie von Ihrer Arbeit als Berater: Wie sieht ein typisches Projekt aus, bei dem Sie das Wissensmanagement auf das nächste Level hieven?
Im Wissensmanagement neuer Prägung muss ich zunächst eine Übersicht darüber erstellen, welche Kompetenzen im Unternehmen vorhanden sind. Es geht darum, dass Organisationen ihre Entscheidungsfähigkeit zurückerlangen. Das ist für mich der Kern meiner Tätigkeit.
Wie gehen Sie vor?
Eine gute Methode ist für mich die Arbeit mit sogenannten Wissenslandkarten. Ich habe eine solche Karte für die IT-Abteilung eines großen Konzerns entworfen und aufgebaut. Am Ende hatten alle Beteiligten (64 Mitarbeitende und Führungskräfte) ein gemeinsames und differenziertes Modell ihrer Aufgaben, Aufwände, Schnittstellen, Tools und Kommunikationswege.
Das klingt visuell ansehnlich. Aber was bringt dieses Modell?
Durch diese Karte können sie die aktuelle Situation verstehen. Also erkennen, was vorhanden ist und was fehlt. Und was anders organisiert werden sollte. Das ist die Basis für das Vorantreiben der eigenen Weiterentwicklung. Außerdem steigt bei Mitarbeitenden und Führungskräften das Verständnis für die anderen Rollen.
“Diese Informationen müssen Wissensmanager von den aktuellen zu den künftigen Verantwortlichen transferieren.“
Welche Branchen fragen Sie besonders oft an – oder sollten dies zumindest tun?
Eigentlich alle. Wenn starke Veränderungen innerhalb des eigenen Unternehmens oder auch am Schnittpunkt mit anderen Organisationen anstehen, ist das Wissensmanagement besonders essenziell. Das In- oder Outsourcing der IT ist zum Beispiel ein solches Ereignis. Es stellen sich dann dringende Fragen nach den organisationsspezifischen Anwendungen und den individuellen Anpassungen, die im Lauf der Zeit im Betrieb eingefügt wurden. Diese Informationen müssen Wissensmanager von den aktuellen zu den künftigen Verantwortlichen transferieren. Das ist leider meist kompliziert, weil das Wissen schlecht dokumentiert ist.
Welche Vorteile haben Sie als externer Berater, wenn Sie fremdes Wissen managen dürfen?
Ich bin chronisch neugierig und bin mir bewusst, dass ich bei jedem neuen Projekt eigentlich nichts weiß. Ich komme demnach nicht als nerviger Besserwisser in die Unternehmen. Auch habe ich nicht das Ziel, jemanden einzusparen. Deswegen akzeptieren mich die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Mehr noch: Häufig erlebe ich das gleiche Interesse an mir, das ich auch den Leuten vor Ort entgegenbringe.
Welche drei Aspekte sollten Unternehmen, die mit dem Wissensmanagement starten, zunächst priorisieren?
Das Wissensmanagement sollte sich organisationsintern zu einem eigenen Markt mit Anbietern und Nachfragern entwickeln. Meine Vorstellung: Jede größere Organisationseinheit muss Angebote zu ihrem Wissen erstellen und anbieten. Gleichzeitig sollte sie Wissen in anderen Abteilungen nachfragen. Dieser Transfer wird innerhalb der Organisation bezahlt.
Die IT sollte dafür eine geeignete Wissensplattform zur Verfügung stellen. Dafür erhält sie ein eigenes Budget.
Das Personalwesen muss ausgebildete Wissensredakteurinnen und Wissensredakteure einsetzen, die den Transfer professionalisieren und überwachen. Damit ist gewährleistet, dass das nötige Wissen anwendungsgerecht, lebendig und frisch bleibt.
Martin Luckmann ist einer der versiertesten Wissensmanager in Deutschland. In mehr als 50 Mandaten unterstützte er Unternehmen in vielfältigen Projekten. Sein Ziel: Die Fähigkeit zum Entscheiden wieder herzustellen oder zu vergrößern. Sein Weg: Wissen und Reflexion gewinnbringend einsetzen. Seine Methoden: Aufmerksamkeit und Kreativität. Luckmann lebt in Bratislava und Berlin.
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