Jannik Kroll
from Jannik Kroll
 
22.03.2023
 
10 Min.
KRONGAARD-content-hub-Wolf Lotter

Herr Lotter, starten wir mit einer gewissen Brisanz. Wie stehen Sie zum Konzept der Vier-Tage-Woche?

Ich finde, dass vier Tage völlig ausreichend sind. Es könnten auch drei reichen oder zwei. Überhaupt kein Problem. Es kann genauso sein, dass wir sieben Tage benötigen. Wir sollten uns eher damit beschäftigen, was wir in unserer Zeit hinkriegen. Davon ist abhängig, ob 32 Stunden nun besser oder schlechter sind als 40.

Sie wollen, dass Leistung gemessen wird – und nicht die Zeit.

Es geht nicht darum, dass wir uns 30 Stunden mit einem Problem beschäftigen. Sondern darum, dass man die Aufgabe, der man sich gemeinsam oder alleine stellt, schnellstmöglich in einem vorab definierten Rahmen löst.

Seit Januar gelten neue Regeln für die Arbeitszeiterfassung. Ihre Wichtigkeit wurde politisch aufpoliert. Das Mantra »Leistung anstelle von Zeit bewerten« scheint wenig beliebt.

Der Leistungsbegriff ist in Deutschland total überholt. Dieser ist an Zeiten und Schichten geknüpft, an die alte industrialisierte Arbeit. Die meisten Menschen sind aber mittlerweile im Bereich der Wissensarbeit tätig, die andere Anforderungen hat. Die Arbeit, die aus der Muskelbude kommt, aus dem Fitnessstudio der Industrialisierung, wird dagegen weniger gebraucht, weil Maschinen sie deutlich effizienter hinkriegen. Nun folgt mit Algorithmen und KI die nächste Phase der Automation. Leider sind wir als Gesellschaft nicht mal mit der vorherigen Umstellung klargekommen. Wir haben zu wenig gelernt.

Woran liegt das?

Die alten industriellen Volksparteien haben immer noch eine unglaubliche Macht über die europäischen Gesellschaften. Diese Gruppen wollen ihr Geschäftsmodell beibehalten. Dieses lebt davon, dass sie eine relativ unmündige Bevölkerung in Unmündigkeit halten. Diese soll weder selbstständig noch selbstbestimmt tätig sein. Es gibt nur Kinder, keine Erwachsenen mit dieser Politik.

Wer auf LinkedIn unterwegs ist, erkennt vielerorts das menschliche Streben nach Bequemlichkeit. Das ist grundsätzlich verständlich. Aber eben nicht förderlich dafür, dass ein Land gedeiht. Zum Beispiel Jahrhundertaufgaben wie die Digitalisierung oder die ökologische Transformation der Wirtschaft meistert.

Bequemlichkeit ist kein grundsätzliches Problem. Wir sind aber auf einer falschen Ebene gemütlich. Wer Komfort will, muss denken. Und das tun wir nicht ausreichend.

Mit Verlaub: Das ist provokant und etwas oberflächlich. Was meinen Sie genau?

Wir laufen mit, tun stets das, was man uns sagt. Wir arbeiten in Routinen, in Normen, wünschen uns, dass alles so bleibt wie bisher. Wir machen es uns im System gemütlich. Dabei übersehen wir, dass uns die verlängerte Werkbank in Asien immer seltener zur Verfügung steht. Länder, die vor einigen Jahren als Entwicklungs- oder Schwellenländer galten, sind uns technologisch nahe gekommen. Manche haben uns sogar überholt.

»Wir brauchen Initiative, sind aber denkfaul.«

Welche Reaktion erkennen Sie in Deutschland? Immerhin ist das eine düstere Einschätzung.

Wir sind resigniert, lehnen uns zurück, verfrühstücken das Erbe der vorangegangenen Generationen. »Wird schon klappen. Und wenn's doch schiefgeht, hilft der Staat.« Nur gibt es ein Problem: Der Staat ist nichts anderes als die Gesamtheit unseres kollektiven Engagements. Wir brauchen Initiative, sind aber denkfaul. Um nicht zu sagen: dumm. Wir wollen alles schnell, besonders Geld, es dabei jederzeit so einfach wie möglich haben. Diese gelebte Sorglosigkeit ist kaum nachhaltig. Wir zahlen den Zinseszins bereits täglich für dieses Verhalten. Mit gravierenden Umweltschäden, einer porösen Infrastruktur und den Abhängigkeiten zu Asien, zum Beispiel.

Eine Lösung, die Sie als Essayist häufiger eingebracht haben, ist die Förderung von Selbstständigkeit.

Ich finde, dass Selbstständigkeit eine Tugend ist. Und zwar eine, die in unserer Wissensgesellschaft dringend nottut.

Warum?

Selbstständigkeit ist ein Konzept, in dem man selbstbestimmt arbeiten kann. Es gibt Kooperationen und Absprachen, die sind wichtig, aber man bekommt nicht genau gesagt, was man wie zu tun hat. Man darf seine intellektuellen Wege und Hilfsmittel selbst wählen. Der Ökonom Peter Drucker, einer meiner Lieblingsdenker, definierte Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter als Menschen, die mehr von ihrer Sache verstehen als ihr Chef. Das ist auch eine Definition von Selbstständigkeit. Sie ist keine Ideologie, kein vertragliches Konstrukt, sondern ein Konzept, mit dem man Arbeit und Gesellschaft neu denken sollte.

Was müsste politisch passieren, damit die Selbstständigkeit gesellschaftsfähiger wird?

Ich halte sie bereits für gesellschaftsfähig, aber für inkompatibel mit der aktuellen Politik. Alle Parteien im Bundestag können die Selbstständigkeit nicht gebrauchen. Sie passt nicht ins Business. Dieses basiert auf abhängige, befürsorgte, ja verkümmerte Bürgerinnen und Bürger. Im Vergleich zu den Nullerjahren haben wir beim Thema Selbstständigkeit erhebliche Rückschritte gemacht, sie ist rechtlich komplizierter geworden. Die Politik meidet diese Arbeitsform, weil sie das Geschäftsmodell gefährdet.

Was Sie bei aller Kritik bedenken sollten: Es gibt eine Form der Selbstständigkeit, die für Menschen prekäre Lebenssituationen schafft – oder diese verschärft. Zum Beispiel bei Lieferdiensten.

Es ist eine ideologische Finte der Parteien, die sagen, dass es ihnen um die Ärmsten der Armen geht. Würde das wirklich so sein, hätte die Politik längst Gesetze erlassen, die eine echte Grundsicherung garantieren. Dann wären unsere Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen längst reformiert worden. Es gibt verhältnismäßig unkomplizierte Modelle, die in der Schweiz, in den Niederlanden oder in Skandinavien hervorragend funktionieren. Nur in Deutschland scheitert die Politik in der Planungsphase. Warum? Weil der Wille fehlt.

Die Politik als Schuldige. Das hört man häufig. Es klingt etwas zu banal. Warum fehlt dem Konzept Selbstständigkeit sogar in der Gesellschaft der nötige Rückenwind?

Weil wir in unserer Kultur einen Satz tief verankert haben: »Du kannst es allein nicht schaffen«. Noch heute ist es so, dass besonders Angestellte die Selbstständigen als minderwertig erachten. Dass es sich bei Freischaffenden um vermeintlich Gescheiterte handelt. Die zu schlecht für ein Angestelltenverhältnis sind. Dieses Weltbild ist im höchsten Maß degradierend. Schlimmer noch: Politik und Bürokratie decken diese Diskriminierung mit ihrem Nicht-Handeln.

Drehen wir es um: Was hätten Politik und Gesellschaft davon, wenn mehr Menschen selbstständig wären?

Eine andere Definition von Leistung. Wenn Menschen sich Risiken aussetzen, zum Beispiel einer Konkurrenzsituation, fördert das nachweislich die Arbeitsqualität. Wer Unsicherheit fühlt, tut etwas dagegen, verändert sich, strengt sich an. In zu geschützten Räumen passiert genau das nicht. Außerdem ein erheblicher Vorteil: Wenn Expertinnen und Experten ihr ungemeines Know-how für mehrere Partner und Partnerinnen zugänglich machen, können Wirtschaft und Gesellschaft nur von diesem Pluralismus profitieren.

Warum wäre Deutschland besonders in Großprojekten handlungsfähiger, wenn Menschen selbstständiger denken würden?

Wir wären auf jeden Fall wettbewerbsfähiger, wenn wir die Abhängigkeiten zur Politik und Bürokratie reduzieren. Dann würden wir für einen Flughafen nicht 15 Jahre brauchen, sondern in fünf mit ihm fertig. Wahrscheinlich würde dieser Airport sogar funktionieren. Was haben wir stattdessen? Komplexe Ausschreibungen, die die Günstigsten belohnen und nicht die Fähigsten. Dazu kommen politische Interessen und Verbindungen. Es entsteht eine Gemengelage, die zum Berliner Flughafen führt. Und diese Probleme hemmen uns in allen Bereichen. Auch die meisten Konzerne sind träge. Sie krümmen ihre Finger erst, wenn es eine Förderung gibt. Ohne Prämie läuft wenig in diesem Land.

»Wenn wir moralischer wären, nicht so heucheln würden, stünden wir als Gesellschaft und Wirtschaft besser da.«

Selbstständigkeit bedeutet Verantwortung. Oder wie Freelancer sagen: Man muss dafür geradestehen, wenn man etwas verbockt. Nun gab es neulich den Fall, dass Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer, die bei Wirecard unsauber gearbeitet haben, nur ihre Lizenzen für juristische Immunität abgeben mussten. Und das, obwohl ihre fahrlässigen Fehler Milliarden gekostet haben.

Es wird besonders in deutschen Unternehmen oft von ethischem Verhalten gesprochen. Wichtig! Ich denke, dass wir diesem Anspruch nur gerecht werden, wenn Menschen sich selbst für ihr Handeln und Tun verantworten müssen. Wir brauchen keine Schuldigen, sondern Verantwortliche. Wenn wir diese anstelle von anonymisierten Kollektiven hätten, diesen Teams, in denen sich viele verstecken, ließen sich einige unserer Probleme vermeiden. Stattdessen springen wir im Geviert herum und simulieren Tätigkeit. Wir greenwashen, wir changewashen. Wenn wir moralischer wären, nicht so heucheln würden, stünden wir als Gesellschaft und Wirtschaft besser da.

Die Anzahl der Selbstständigen in Deutschland wächst zwar kontinuierlich, zuletzt aber langsamer. In Anbetracht eskalierender Herausforderungen: Wie sehr fehlen in Deutschland mittlerweile unabhängige Denkerinnen und Denker?

Denken, um Probleme zu lösen, ist erstmal unbequem, es besteht in konstruktivem Zweifeln, das mögen die Leute nicht so gern. 

Der begabte wie streitbare, leider früh verstorbene Anthropologe David Graeber warnte vor der steigenden Anzahl von Bullshit Jobs. Denken die Menschen, die denken wollen, das zu oft in falschen Rollen?

Ich bin grundsätzlich bei Graeber, der jaden mangelnden Sinn vieler Tätigkeiten beklagte. Anders als er mache ich die Leute in Bullshit Jobs aber mitverantwortlich für diese Sinnlosigkeit. Sie machen ja brav bei dieser Beschäftigungstherapie mit. Dabei könnten Maschinen und Algorithmen zahlreiche Jobs bereits heute schneller, effizienter und sicherer erledigen. Abgesehen davon: Wenn wir unsere Arbeit nur konsequenter strukturieren und dafür das mächtigste Werkzeug auf dem Planeten besser einsetzen würden, das menschliche Gehirn, ließe sich in Organisationen viel sinnfreier Aufwand einsparen. Noch dazu sind diese Aufgaben für die Betroffenen frustrierend! Sie können in sinnfreien Rollen keine Probleme lösen, sondern nur verwalten. Und beim Thema Verwaltung wird die andere Seite der Bullshit Jobs besonders deutlich: Es werden Probleme geschaffen, nur damit manche Menschen eine Aufgabe haben.

Was wiederum obskur klingt: Es gibt Herausforderungen, für die Fachkräfte fehlen. Zugleich werden neue Probleme konstruiert, die überflüssig sind. Warum der Irrsinn?

Wir erleben seit Jahren eine Bürokratisierung des akademischen Bereichs. Es geht nicht mehr darum, absolute Spezialistinnen und Spezialisten auszubilden. Stattdessen sorgt die Akademisierung für eine Flut von Absolventinnen und Absolventen, die der Arbeitsmarkt versorgen muss. Das nährt die sinnlose Compliance! Überall Vorschriften und Menschen, die schauen, ob diese eingehalten werden. Viele Verantwortliche in der Bürokratie, deren Macht an Problemen hängt, sorgen dafür, dass die Missstände erhalten bleiben. Sie haben kein Interesse daran, dass etwas gelöst wird, weil das die eigene Daseinsberechtigung gefährdet. Dieses anerzogene Verhalten ist eine der größten Transformationsbremsen in Deutschland.

»Projekte werden zu einem Dauerzustand erklärt, damit Jobs bleiben. Ein weiteres Symptom für den Mangel an unternehmerischem Denken in Deutschland.«

KRONGAARD-Geschäftsführer Andreas Brück fragte kürzlich, ob Deutschland wieder mehr in Projekten denken muss, damit die Wirtschaft erneut an Dynamik gewinnen kann. Ihre Antwort?

Ein Projekt ist am Ende nichts anderes als ein Ziel. Es kann nur vernünftig sein, wenn man sich kleine Wegpunkte setzt und diese erreicht. Den berühmten Haken hinter ein Problem setzt. Erst wenn dieser da ist, kann man wirklich über neue Vorhaben diskutieren. Was ich jedoch viel häufiger erlebe: Projekte werden zu einem Dauerzustand erklärt, damit Jobs bleiben. Ein weiteres Symptom für den Mangel an unternehmerischem Denken in Deutschland. Nur ein Beispiel: Bei mir zu Hause wurde eine Straße in den vergangenen zwei Jahren siebenmal aufgerissen. Eine Dauerbaustelle. Betriebswirtschaftlicher, mit Steuern finanzierter Unsinn. Irgendwo sitzt eine Person, die sich sieben Mal mit dem Ausstellen von Genehmigungen beschäftigen durfte. Letztlich trifft es ein Aphorismus von Eugen Roth präzise: »Zwei Dinge bedrohen des Doktors täglich Brot: Die Gesundheit und der Tod.« Halte das Problem in der Schwebe, und du hast ein Auskommen. Das ist heuchlerisch. Wie soll sich eine derart verlogene Gesellschaft erfolgreich transformieren? Dafür fehlt mir eine Antwort.

Sie fordern beispielsweise mehr Individualität. Der Wunsch klingt plausibel, birgt aber Risiken. Mehr Individualität könnte zu mehr Ellenbogen führen.

In Deutschland, wo Individualismus und Selbstständigkeit verpönt sind, beklagt man sich natürlich über Ellenbogen. Das ist altbekannt. Die Frage ist: Wo kommt das her? Wir leben in einer Struktur, in der Einheit – ein großes deutsches Wort – und Gemeinschaft überall bevorzugt wird. Individualität dagegen wird als egozentrisch geschmäht. Wie kommt es also, dass in Deutschland, in dem Kollektivismus so wichtig ist wie in keinem zweiten Land in Europa, so viel über Ellenbogen geredet wird? Weil uns schon im Kindergarten gesagt wird, dass Gemeinschaft besser ist als Selbstständigkeit. Wenn wir wirklich nach Diversität und Emanzipation streben wollen, müssen wir aber den einzelnen Menschen und dessen Interessen betrachten. Diese Bedürfnisse zu akzeptieren ist das, was wir gemeingültig als Fairness bezeichnen. Nur auf dieser Basis – dem Achten der Interessen der Einzelnen – kann echte Kooperation entstehen.

Nun kann man dagegenhalten: Einheit, das beschriebene Zusammenstehen, ist eine Form der Solidarität.

Wir sprechen in diesem Land oft davon. Meine tatsächliche Erfahrung ist eine andere. Dort, wo am meisten über Solidarität gesprochen wird, ist sie am wenigsten vorhanden. Besonders Selbstständige haben den Mangel an Unterstützung in den vergangenen Jahren vielseitig spüren dürfen. Zum Beispiel bei der Nicht-Unterstützung während der Corona-Pandemie. Solidarität ist zum Wieselwort geworden. 

Es gibt einen Begriff, der Kollektivismus und Individualismus spannend verknüpft: Netzwerkökonomie.

Genau darum geht es. Die Netzwerkökonomie ist die überfällige Weiterentwicklung der industriellen Arbeitsorganisation, in der wir in Blöcken und Säulen dachten. Netzwerke sind dagegen bewegliche Angebot- und Nachfrage-Organisationen. Orte, an denen Projekte stattfinden. In denen die Menschen selbstbestimmt eine gewisse Zeit kooperieren, mit eigenen Interessen gemeinsame Problemlösungen verfolgen. Ist ein Ziel erreicht, sucht man sich neue Netzwerke – oder wird von anderen aufgelesen. Es ist der gegensätzliche Ansatz zu: »Jetzt bin ich hier, jetzt muss die Arbeit zu mir kommen.« Aufgrund dieser archaischen und leider verbreiteten Denke erzeugen wir künstliche Probleme. Ich glaube deshalb an die Netzwerkökonomie als Zukunft für unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Zusammenleben.

Wir haben viel über Politik gesprochen, das phasenweise kritisch. Ich habe ein positives Beispiel: In Mecklenburg-Vorpommern, das Gegenteil eines Industriebundeslandes, unterstützt die Politik kommunale Initiativen, die Unternehmen in Netzwerke bringen und binden. In diesen Zusammenschlüssen gedeihen Erfolgsgeschichten. Die Politik ist Vermittler, sie schafft einen Rahmen.

Die Verwaltung, die wir in schlankerer Form unbedingt benötigen, sollte grundsätzlich ermöglichen und sich beim vermeintlichen Besserwissen zurücknehmen. 

Die Politik kann Plattformen schaffen, die im metaphysischen Sinn die Straßen zwischen Menschen, Unternehmen und allen anderen Organisationen bauen. Sie sollte das tun, was eine gute Führungskraft in einer Organisation macht: vernetzen und verbinden. Also die bestmögliche Zusammenarbeit von allen Expertinnen und Experten innerhalb eines Projekts ermöglichen. In der lokalen Verwaltung sehe ich regelmäßig tolle Beispiele für dieses Handeln. In der höheren Politik erkenne ich dagegen reaktionäre Motive. Es soll ein Status quo beibehalten werden, der heutzutage untragbar ist.

Wie sehen Sie die Zukunft der Arbeitsform des selbstständigen Arbeitens in Deutschland?

Ich befürchte eine weitere Verschärfung in den kommenden Jahren. Oder deutlicher formuliert: Das Reaktionäre wird sich vorerst ausbreiten. Denn die Emanzipation der Menschen hin zu mehr Selbstständigkeit und Freiraum lässt sich in einer Wohlstandsgesellschaft niemals aufhalten. Genau das spüren die aktuellen Entscheiderinnen und Entscheider. Sie klammern sich an die alte Zeit, an Macht. Sie werden noch wilder um sich schlagen. Zu sehen ist das momentan an den neuen Arbeitsgesetzen aus Brüssel, die keine vernünftige Lösung anbieten. Stattdessen werden die Bedingungen für Selbstständige und viele andere verschärft. Es ist bürokratischer Unsinn, den die Verantwortlichen dort basteln.

Und warum wird sich die Gesellschaft – aus Ihrer Sicht notwendig – dennoch zur Transformation bewegen?

Wir werden einen Kipppunkt erreichen, an dem die Krise so tief ins Fleisch schneidet, dass Menschen irgendwann experimentieren und machen müssen. Trotz der Umstände – oder gerade deshalb – werden selbstbewusste und selbstbestimmte Menschen Wege finden, die zur Transformation führen. Und das werden meines Erachtens diejenigen sein, die heute schon selbstständig sind.

Herr Lotter, zum Abschluss: Sie sind Journalist. Sie stehen sozusagen an der Seitenlinie, beobachten, anstatt mitzumachen. Ganz schön bequem.

Meine Arbeit halte ich mir konsequent unbequem, weil ich mich mit den Bequemen anlege. Das ist der Job. Ich bin kein Komfortzonenpfleger. Und klar: Es ist leichter, wenn man lieb ist. Dabei kommt aber nix raus, es ändert sich nix. Insofern bin ich mittendrin, hoffentlich.

Wolf Lotter, Jahrgang 1962, ist einer der profiliertesten Wirtschaftsdenker in Deutschland. Als Mitbegründer der brand eins, Essayist in zahlreichen Medien sowie als selbständiger Speaker und Buchautor prägt und entfacht der gebürtiger Österreicher zahlreiche Debatten. Lotter lebt heute in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg.

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Wolf Lotter
 Essayist

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