Arbeiten im Strandkorb. Eine schöne Vorstellung. Und in Zeiten der Corona-Pandemie, in denen das Social-Distancing Volkssport geworden ist, eine charmante wie kreative Alternative für etwas Abgeschiedenheit. Christoph Bornschein, bekannter Unternehmer, Digital-Experte und Agenturgründer saß erst kürzlich im Strandkorb-Office. In Heiligendamm, direkt an der Ostsee. Sein erster Trick, damit die Arbeit an solchen Plätzen funktioniert, ist simpel. Seine technischen Geräte besitzen alle eine Sim-Card. Das soll unabhängig machen von der örtlichen WLAN-Situation. Sozusagen eine Form der Selbst-Digitalisierung.
Im KRONGAARD Webinar spricht Christoph Bornschein über sein Kernthema: die Digitalisierung. Mit seiner international agierenden Agentur “Torben, Lucie und die gelbe Gefahr” (TLGG) berät er nationale und internationale Top-Unternehmen in technologischen Alltags- und Zukunftsfragen. Bornschein gilt als besonders rasch denkender Mensch, als Gedankenbeschleuniger, der nicht nur schnell sprechen, sondern auch im hohen Sprechtempo überlegt und präzise formulieren kann. Wir haben seine wichtigsten Learnings aus dem Webinar notiert.
Das Protokoll zum Webcast:
Was wird große Wellen schlagen?
Für mich sind aktuell zwei Themen besonders interessant.
- Was sind die unmittelbaren Effekte, die die Corona-Pandemie für unsere digitale Zusammenarbeit und unser digitales Zusammenleben auslöste? Und wie wirken sie auf verschiedene Branchen?
- Möchte ich einen Blick auf das wagen, das bleiben wird. Wir sprechen hier von sogenannten Second-Order-Effekten. Was hat sich in kleinen Dosen verändert, wird aber große Wellen schlagen und unterschiedliche Industrien beeinflussen? Was bleibt von den digitalen Fortschritten in der Zeit nach Corona?
Wir müssen wissen: Unsere Diskussionen über die Vuca-Welt und über die Resilienz von Organisationen war vor der Krise sehr virtuell geprägt. Die Veränderungen verliefen eher langfristig und waren früher sichtbar. Dadurch hatten wir genügend Zeit, um darauf zu reagieren. Covid-19 stellt nun eine echte Disruption dar. Sie trifft uns unerwartet, unweigerlich und ist für uns unausweichbar.
In der ersten Phase der Corona-Krise verfolgten viele Firmen zunächst die Strategie der Business-Continuity. Die Unternehmen fragten sich, wie sie bewährte Funktionen am Leben erhalten können. Im Bankenumfeld, in dem ich als Aufsichtsrat tätig bin, gab es zum Beispiel ein paar Schlüsselfragen:
- Wie garantieren wir die Weiterversorgung der Kunden mit Bargeld?
- Wie sichern wir den Zugang zu den Konten?
Im Banking dürfte es in den vergangenen Wochen einen fulminanten Wandel gegeben haben. Vor der Krise lag die Quote der Menschen, die Online-Banking nutzten, bei etwa 40 Prozent. 60 Prozent der Bankkunden hatten hingegen keinen Zugang zu einer digitalen Kontoführung. Hier würde es mich nicht wundern, wenn wir eine signifikante Veränderung im Nutzerverhalten sehen, die während der Corona-Pandemie in Gang gesetzt wurde.
Insgesamt erkenne ich eine geradlinige Zweiteilung zwischen zwei unterschiedlichen Mindsets bei den Unternehmen.
- Mindest A:
Es gibt diejenigen, die auf einen Rebound hoffen, also auf eine wirtschaftliche Entwicklung in U- oder V-Form. Corona ist für sie nur ein Loch in der Geschichte. Danach geht es aber weiter wie bisher.
- Mindest B:
Und es gibt die Unternehmen, die rasch damit begannen, ihre bisherigen Annahmen zu hinterfragen. Müssen Geschäftsmodelle oder Zusammenarbeitsformen neu erdacht werden? Diese Firmen begreifen Covid-19 nicht als Loch, sondern als einen langfristigen Einschnitt, dessen finale Folgen noch nicht absehbar sind.
Eine Grafik, die ich zuletzt in den sozialen Netzwerken sah, trifft es ganz gut. Es wird gefragt, wer die digitale Transformation in Unternehmen final eingeleitet hat.
- Der CEO?
- Der CTO?
- Nein, die Antwort, etwas provokant, aber ziemlich wahr: COVID-19.
Ich hoffe, dass wir in Zukunft auf diese Phase zurückblicken, und sehen können, dass wir Europäer Corona für notwendige Fortschritte in der Digitalisierung vielleicht sogar gebraucht haben. Das die Corona-Pandemie für uns ein Weckruf war. Im Konjunkturpaket der Bundesregierung werden viele Themen angepackt, die wir schon eher hätten anschieben können. Investitionen in die digitale Bildung oder E-Mobilität sind nur zwei prägnante Beispiele. Die Corona-Krise kann also abseits der dramatischen medizinischen Folgen ein Sprungbrett für die Digitalisierung sein. Wir können es hoffentlich für ein wettbewerbsfähiges Europa in einem digitalen Zeitalter benutzen.
Die vergangenen Wochen haben auf vielen Ebenen die digitale Veränderungskraft gezeigt. Zum Beispiel sagten uns bis vor einigen Monaten viele Partner oder Stakeholder, dass Arbeit im Homeoffice nicht zu erledigen sei. Dieses Denken musste sich mit den Pandemie-bedingten Einschränkungen wandeln. Wir selbst versuchen bei (TLGG) zu messen, wie unsere Mitarbeiter das Office vermissen. Wir stellen fest: Zu 68 Prozent wollen die Kollegen noch nicht wieder zurück ins Büro. Wir müssen uns also viele Fragen stellen: Brauchen wir Arbeitsraum und Immobilien? Können wir Flächen reduzieren? Wir sehen unsere Arbeitswelten bald aus? Wie definiert sich unsere Zusammenarbeit?
Auch abseits des Arbeitsumfeldes hat die Corona-Krise einige Denkprozess initiiert. Wir haben selten hinterfragten Systemen Stresstests unterzogen und konnten sehen, wie resilient unsere Organisationen wirklich funktionieren.
Selbst Vorstände mussten erkennen, wenn beispielsweise der VPN-Zugang nicht wie geplant einsetzbar war, dass die digitale Infrastruktur noch viel Optimierungspotenzial besitzt. Es ist in dieser Zeit sehr viel Pragmatismus entstanden. Und den werden wir brauchen.
Der Szenario-Funnel, der uns ein Szenarienspektrum für Zukunftsprognosen anzeigt, wird breiter. Folgen sind dadurch schwerer zu erkennen und vorauszusehen. Die Vorbereitung auf Krisen gestaltet sich umfassender und schwieriger. Es braucht eine resiliente Führung und mehr Innovationskraft. Wenn wir uns anschauen, welche Unternehmen von der Krise profitiert haben und welche nicht, erkennen wir: Digitale Organisationen, die die Zusammenarbeit problemlos aufrechterhalten konnten, entwickelten schneller neue Vertriebsalternativen als Firmen, die nicht ansatzweise so gut vorbereitet waren.
Wenn ich verschiedene Branchen betrachte, sehe ich in naher Zukunft spannende Entwicklungen:
E-Commerce
Produkte, die bislang als nicht “online handelbar” galten, sind plötzlich im Web verfügbar. Aus der Not verlagerten auch kleine Geschäfte und Läden ihr Business in Online-Shops. Amazon, der stille Riese, steigerte seinen Umsatz in den vergangenen drei Monaten erheblich. Die Zahlen sind beeindruckend. Und ich denke, diese Verstärkung des E-Commerce wird in den kommenden Monaten nicht sonderlich abschwächen. Der Mensch braucht etwa sechs Wochen, um sich an etwas gewöhnen. Und zuletzt hat er sich eindeutig weiter daran angepasst, Einkäufe online zu erledigen.
Online Payments
Von diesem weiteren Aufstieg des Online-Handels profitieren auch die Anbieter von digitalen Payment-Lösungen wie Paypal oder Kreditkartenanbieter. Problematisch: Es gibt gerade bei den Kreditkarten kein vergleichbares deutsches oder europäisches System, das international mithalten kann. Das schafft eine große Abhängigkeit gegenüber den amerikanischen Anbietern.
Gesundheitswesen
Die Gesundheitsbranche ist in fast allen Ländern ein tragender Wirtschaftszweig. Sowohl im E-Commerce, bei digitalen Arztbesuchen oder bei der Auswertung von gesundheitlichen Massendaten sehe ich große Fortschrittspotenziale. Voraussetzung ist, wir bekommen den Spagat zwischen Datenschutz und Datenqualität gelöst. Generell: Fortschritte, die wir erreichen, dürfen nicht vergessen werden, wenn Corona einige Jahre zurückliegen wird. Sie sind hart erarbeitet, müssen nachhaltig sein.
Bildung
Die Digitalisierung des Bildungssystems, insbesondere der Schulen, bleibt ein großes Problem, weil wir hier zunächst die strukturellen Schwächen des Föderalismus überwinden müssen. In Hessen beispielsweise wurden Zoom-Calls erst sehr spät für den Unterricht erlaubt. Wir müssen die Trägheit des Systems angehen, damit die Bildung wirklich erfolgreich und über Ländergrenzen hinweg digitalisiert werden kann.
Automobil-Industrie
Auch wenn es in China einen beachtlichen Rebound gab, und das eigene Auto nach der unmittelbaren Krisenlage an Bedeutung gewann (das Vertrauen in den Nahverkehr sank), sehe ich in der Automobilindustrie einen Wechsel von einer Eigentums- zur Nutzungskultur. Volvo ist im E-Commerce ein Vorbild und entwickelt funktionale Abo-Modelle, eine Art Netflix fürs Auto. Es geht bei den Diskussionen um die Autoindustrie also nicht nur um einen ökologischen Antrieb, gespeist aus erneuerbaren Energien, sondern zusätzlich um grundsätzliche Vertriebsfragen.
Auch das Abwägen und Zögern ist eine Handlung
Generell hoffe ich, dass wir einsehen, dass auch das lange Abwägen und Diskutieren von Handlungsoptionen selbst eine Handlung ist. Wir warten ab und jemand anderes kann eine Lücke oder eine Problemlösung besetzen. Ich glaube aber an eine positive Gesellschaftsveränderung, die besonders die Flexibilität im Arbeitsalltag erhöht. Ich kann jetzt gerade in Heiligendamm arbeiten, an diesem Webinar teilnehmen, und es ist egal, wo ich bin. Ich erledige meinen Job trotzdem. Das, was mir vorher schon klar war und mein Berufsleben positiv beeinflusste, haben in den vergangenen Wochen viele Unternehmen und ihre Entscheider erkannt.
Vielleicht ist Corona rückblickend, ich hoffe es sehr, ein Sputnik-Moment, der dazu führt, dass wir digitaler arbeiten, flexibler handeln und mutiger investieren. Und so dafür in Europa sorgen, dass wir im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleiben.