Frau Dr. Müller, Sie arbeiten seit mehr als 20 Jahren mit Unternehmen im In- und Ausland. Sie sind Autorin mehrerer Fachbücher. Machen Sie die Führungskräfte und Mitarbeitenden, mit denen Sie arbeiten, besser?
Nein, auf gar keinen Fall. Es wäre unglaublich arrogant, würde ich das behaupten. »Besser machen« können die Menschen nur sich selbst. Ich möchte ihnen mit meinem Wissen und den vermittelten Techniken lediglich einen Anstoß für das Leben geben. Damit sie herausfordernde Situationen privat und beruflich überwinden können.
Besonders in der Arbeitswelt ist das Thema noch recht neu. Wie entstand ihr frühes Interesse an mentaler Stärke?
Durch meinen Vater. Er interessierte sich früh für das Thema mentale Stärke.
Das Interesse an mentaler Gesundheit stieg in der Wirtschaft zuletzt merklich an. Warum so spät?
Wir müssen differenzieren: Andere Länder beschäftigen sich bereits länger damit. Ich vermute, dass in Deutschland erst jetzt Interesse entsteht, weil es auch hier mittlerweile sozial akzeptiert ist, sich mit sich selbst, seinen Gefühlen und seinem Wohlergehen zu beschäftigen. Insofern halte ich es für wichtig, dass Unternehmen Seminare und Coachings für das mentale Wohlergehen ihrer Mitarbeiter anbieten.
Wo auf der Welt sind die Organisationen weiter?
In Nordamerika gehen die Menschen viel offensiver mit dem Thema mentale Gesundheit um. Es ist vollkommen akzeptiert, wenn jemand eine Therapie besucht. Denn die erwiesenen Wirkungen des mentalen Trainings sind nicht neu. Wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gab es bereits im vergangenen Jahrhundert. In Deutschland ist das Thema erst seit knapp zehn Jahren relevant. Eine späte, aber umso wichtigere Entwicklung.
Der heutige Arbeitsalltag ist gespickt mit Herausforderungen. Vor welchen stehen Führungskräfte und Mitarbeitende besonders oft?
Den üblichen Verdächtigen. Zum Beispiel Komplexität. Durch agile Arbeitsweisen sind Mitarbeitende oft in viele verschiedene Projekte involviert, in welchen sie bestrebt sind, Höchstleistungen zu erbringen. Das kann neben den anderen Herausforderungen des Lebens schnell zu viel sein.
Insbesondere Menschen, die für ihren Job brennen, was eigentlich eine wunderbare Sache ist, sind besonders oft betroffen. Für sie müssen es meist die 120 Prozent sein, um zufrieden nach einem Arbeitstag nach Hause zu gehen. Wenn sie ein Projekt vernachlässigen müssen, entsteht psychischer Druck.
Eine weitere Herausforderung ist die dauerhafte Erreichbarkeit, aber auch das ist nicht neu. Das Handy vibriert, Kolleginnen und Kollegen rufen an, im Teamchat werden schnelle Antworten erwartet. Dazu kommt der Mental Load aus dem Privatleben. Beispielsweise Mütter oder Väter, die mit den Kindern zu Hause bleiben und dort arbeiten.
Was ist das Wesen Ihrer Arbeit?
Ich vermittle mit meinen Seminaren und Workshops, dass es nicht nur okay, sondern absolut notwendig ist, dass sich Menschen um ihre mentale Ausgeglichenheit kümmern. Sie ist essenziell für die eigene psychische und physische Gesundheit.
Wer sich nicht mit seiner mentalen Gesundheit befassen darf, schaut sich rascher nach einem neuen Job um.
Nicht in allen Unternehmen ist diese Dringlichkeit angekommen. Was sind die Folgen?
Die Fluktuation steigt. Wer sich nicht mit seiner mentalen Gesundheit befassen darf, schaut sich rascher nach einem neuen Job um. Gestresste Mitarbeitende, die niemanden für den Austausch haben, arbeiten weniger produktiv und innovativ. Das betrifft auch Führungskräfte. Viele sind immens überlastet. Das erschwert auch die Suche nach neuen Mitarbeitenden. Denn diese entscheiden sich für die Unternehmen, die mentaler Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken.
Ihre Arbeit zielt vor allem auf die Menschen innerhalb eines Unternehmens ab. Warum?
Ganz einfach: Kein Unternehmen funktioniert ohne Menschen. Selbst künstliche Intelligenzen werden nicht alle Aufgaben übernehmen.
Ein essenzieller Aspekt mentaler Gesundheit ist die Resilienz. Was genau ist das?
Resilienz beschreibt unsere Fähigkeit, auf Niederlagen positiv zu reagieren. Das beginnt bei der Kommunikation im Office und endet bei schweren Schicksalsschlägen. Resilienz hilft, solche Situationen zu akzeptieren und schnell zu überwinden.
Viele Menschen würden ihren Alltag gerne mit mehr Resilienz bestreiten. Wie kann man das lernen?
Zunächst muss man die eigenen Trigger identifizieren. Das sind Situationen, die einen psychisch stressen. Das kann schon eine Telefonnummer auf dem Display des Telefons sein – ein Kunde, eine Kollegin, die der Chefin oder des Chefs. Löst sie negative Emotionen aus, müssen Betroffene die Gründe verstehen. Dadurch können sie ihr Empfinden besser akzeptieren und regulieren.
Warum ist diese Fähigkeit in der heutigen Arbeitswelt so wichtig?
Weil sie sich komplett gewandelt hat. Früher hatten wir weniger Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir auskommen mussten. Heute sind es viel mehr, dazu entstehen ständig neue Situationen, die sie fordern.
An die Resilienz schließt sich die emotionale Intelligenz an. Was ist das?
Emotionale Intelligenz ist die Fähigkeit, die eigenen Emotionen und die der Mitmenschen wahrzunehmen und dementsprechend zu regulieren und zu handeln. Das ist für die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz entscheidend.
Wie können sich Menschen emotionale Intelligenz aneignen?
Durch Seminare, Coachings und natürlich auch Literatur zu dem Thema Emotionale Intelligenz. Damit lassen sich eigene Emotionen besser verstehen und man ist in der Lage, auch Emotionen anderer weniger emotional einzuordnen. Besonders Letzteres erleichtert die Zusammenarbeit enorm.
Stress ist einer der größten Risikofaktoren für mentale Erkrankungen. Was können sie dagegen tun?
Jeder von uns kann sich Techniken aneignen, die uns vor negativem Stress bewahren. Hier heißt die Devise: dranbleiben und regelmässig anwenden.
Von Ihrer Arbeit profitieren nicht nur Mitarbeitende. Wie helfen Sie Unternehmen?
Ich sorge dafür, dass sie von zufriedeneren und gesünderen Mitarbeitenden profitieren – und damit die Fluktuation senken.
Dabei will ich keine konkreten Führungstechniken vermitteln, sondern Führungsmöglichkeiten aufzeigen, die den Menschen und seine Stärken fokussieren.
Für Führungskräfte bieten Sie konkrete Seminare zum Thema Leadership an. Worum geht es?
Leadership ist ein komplexes Themenfeld, das sich aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt. Dazu gehören beispielsweise die emotionale Intelligenz, das virtuelle Führen oder die transformationelle Führung. Dabei will ich keine konkreten Führungstechniken vermitteln, sondern Führungsmöglichkeiten aufzeigen, die den Menschen und seine Stärken fokussieren. Das alles ist ein Vorläufer für Themen wie Resilienz oder auch Job Crafting.
»Job Crafting.« Der Begriff ist sicher vielen unbekannt.
Job Crafting ist ein Konzept, bei dem sich Mitarbeitende ihren Job nach ihren Stärken und Vorlieben im Rahmen des im Unternehmen möglichen gestalten. Untersuchungen ergaben, dass viele Mitarbeitende das Konzept bereits unterbewusst anwenden. Es zeigen sich positive Effekte auf die Motivation, die Leistung und das mentale Wohlbefinden.
Was bringt das Job Crafting konkret den Unternehmen?
Sie führen zu deutlich besseren Arbeitsergebnissen, weil sie die Interessen und Stärken der einzelnen Mitarbeitenden fokussieren. Warum sollte sich jemand mit einer Aufgabe quälen, die andere gern und besser erledigen? Das kostet Energie, die an anderer Stelle fehlt.
Man könnte auch sagen: Wünsch dir was!
Beim Job Crafting geht es nicht darum, dass sich Mitarbeitende ihre „Extrawürste” braten. Jeder Mensch muss gelegentlich lästige Aufgaben erledigen, das lässt sich nicht ändern. Gibt es aber genügend Projekte, die Spaß machen und in welchen man seine Stärken nutzen kann, geben diese dem Job einen neuen Sinn.
Job Crafting ist keine kurzfristige Maßnahme. Sie beansprucht viel Zeit für die Kommunikation und benötigt eine saubere Vorbereitung.
Warum findet das Thema in Deutschland bisher kaum statt?
Vielen Unternehmen fehlt schlicht die Zeit. Die Aufgaben des Arbeitsalltags lassen dafür keinen Raum. Job Crafting ist keine kurzfristige Maßnahme. Sie beansprucht viel Zeit für die Kommunikation und benötigt eine saubere Vorbereitung.
Außerdem sind viele unsicher, ob Job Crafting nicht doch nur ein kurzzeitig angepriesener Trend ist. Diese Bedenken müssen wir zerstreuen.
Wie kann so ein Arbeitsumfeld entstehen?
Wenn Unternehmen deutlich flexibler werden, wäre das ein Anfang. In manchen Firmen durchlaufen Entscheidungen über mehrere Jahre alle Gremien. Das erschwert Führungskräften das Anstoßen von neuen Themen wie dem Job Crafting. In Zukunft wird sich aber jedes Unternehmen damit befassen müssen.
Zum Abschluss: Welche drei Maßnahmen des Coachings würden sie allen Unternehmen empfehlen.
Workshops und Seminare zu mentaler Stärke und Emotionsregulation sowie Coaching. Jeder sollte mit einer neutralen oder externen Person über seine Themen, Wünsche und Probleme sprechen können.